# taz.de -- berliner szenen: Neue Berliner Sauberkeit | |
Die Straßen von Mitte waren wie geleckt. Mit einer diskreten Handbewegung | |
versenkte ein Anzugträger das Geschäft seines Pinschers in einer Tüte. Ich | |
stand mit dem Citybike vor einer rot glänzenden Ampel. Wie zum Beweis ihres | |
Einsatzeifers bog eine BSR-Kehrmaschine über die Kreuzung. Auf ihrer Flanke | |
prangte „Ich bin die mit dem Putzfimmel“. Irgendwas stimmt hier nicht, | |
dachte ich. Bei meinem Ritt nach Mitte war mir die Stadt so sauber | |
vorgekommen! War diese verdächtige Aufgeräumtheit allein die Folge von | |
monatelangem Homeoffice und Beherbergungsverbot? Oder machte die Stadt | |
gerade einen grundlegenden Kulturwandel durch? | |
Nach der Arbeit, Zoomtreffen und Telefonaten fuhr ich in den Südwesten, der | |
sich mir in der Vergangenheit immer als sicheres Dreckloch erwiesen hatte. | |
Am Böhmischen Platz wartete ein brasilianischer Kollege zwischen | |
Pingpongplatten und verblühenden Zierkirschen. Wir tankten am Späti | |
gegenüber. Er war nicht nur Reporter, sondern kannte jeden | |
Zaundurchschlupf, um sich in diesem Labyrinth der Hohlgassen nicht zu | |
verlieren. Auch in Rixdorf war es überraschend sauber, die Wege geharkt, | |
die Hecken geschnitten. Selbst die Streetart war sauber auf die Ziegelwände | |
gekleistert. | |
Nach einem Absacker in einem Britzer Dachgeschoss kurvte ich durch die | |
Tempelhofer Industriegebiete, vorbei an den Saurierskeletten der Kräne, den | |
Mammutschatten der Maschinen. Auch hier war kein Schmutz zu sehen. Doch | |
dann wurde die Luft schwerer. Erst stank es nach zu stark geröstetem | |
Kaffee, dann nach verbrannten Butterkeksen, schließlich nach Zündpulver. | |
Der Dreck wird allem Anschein nach umverteilt, was nicht mehr auf den | |
Straßen liegt, in die Luft geblasen! Ich war dennoch erleichtert: Berlin | |
ist sich ein Stückchen treu geblieben. Timo Berger | |
27 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Timo Berger | |
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