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# taz.de -- DiekonservierteKatastrophe
Bild: Pripyat von oben im April 2021: Eine Stadt, die es nicht mehr gibt, obwoh…
Im Mai 2019 stehe ich in der Zone um Tschernobyl. Ich bin mit einem Freund
unterwegs, sieben Tage Urlaub in der Ukraine, fünf in Kiew, zwei in der
Zone. Für uns ist das eine Bildungsreise, die Folgen des Atomunfalls
interessieren uns schon lange. Hier sind wir nervöse Touristen.
Seit der US-Fernsehsender HBO eine Serie über die Katastrophe gedreht hat,
boomt hier das Geschäft. Tourismus ist zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor
für die Region geworden. Busse fahren Tagesausflügler zum Reaktor.
Nur wir bleiben über Nacht, unsere Gruppe besteht aus mir, meinem Freund,
zwei weiteren Touristen und einem lokalen Guide. Ich habe einen kleinen
gelben Geigerzähler gemietet. In der Pension piepst er nicht, beruhigend.
Abends wird ein Gericht mit Pilzen serviert, ich habe ein flaues Gefühl im
Magen. Tagsüber erkunden wir die Zone, sehen die verlassene Stadt Pripyat,
sprechen mit Zeitzeugen, die trotz allem noch in der Zone leben, essen mit
den Arbeitern in der Kantine des versiegelten Reaktors. Hier ist die
Sowjetunion konserviert. Plünderer nahmen alles von Wert mit, Alltag blieb
zwischen den Trümmern zurück. Kinderbetten, Puppen, Gasmasken, Schul- und
Tagebücher, verlassene Sporthallen, ein Kino, ein kleiner Freizeitpark mit
dem berühmten Riesenrad. Die Zeit ist irgendwie stehengeblieben.
Als vor 35 Jahren, am 26. April 1986, im Atomkraftwerk Tschernobyl in der
Ukraine der Reaktorblock 4 explodierte, war ich noch nicht geboren. Die
Katastrophe und ihre Auswirkungen sind noch immer messbar, die genauen
Todeszahlen unbekannt, die WHO spricht von Tausenden möglichen Opfern,
Atomkraftgegner sprechen von Hunderttausenden. Den Unfallort umspannt eine
Zone mit einem Radius von 30 Kilometern, bis heute unbewohnbar.
Als 2011, da bin ich gerade 13 Jahre alt, in Fukushima die nächste
Atomkatastrophe passiert, komme ich das erste Mal mit Politik in Berührung.
Ein Atomunfall als politisches Erweckungserlebnis, klingt pathetisch. Aber
plötzlich fallen mir die „Atomkraft? Nein Danke“-Aufkleber auf, überall in
Baden-Württemberg, wo ich herkomme. Mit Winfried Kretschmann wird zwei
Monate später erstmals ein grüner Ministerpräsident gewählt. Was das alles
bedeutet, verstehe ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber ich spüre, dass sich
etwas verändert. Die Bilder aus Japan, Atomausstieg, Diskussionen in der
Schule und am Esstisch zu Hause.
Für unseren Tourguide ist Tschernobyl ein Zeichen der Unterdrückung und des
russischen Imperialismus. „Und heute steht Moskau wieder in unserem Land.“
Es lässt ihn nicht los. Fast jede Woche führt er Touristen in die Zone,
will sie aufklären. Seine Familie sorgt sich um seine Gesundheit.
Man hätte Tschernobyl verhindern können, erzählt er, jetzt sei es ein
Mahnmal für die Gefahren ideologischer Verblendung der sozialistischen
Sowjetunion. Doch auch in Fukushima konnte ein Unglück passieren, denke
ich. Der atomaren Katastrophe ist das politische System egal. Marius Ochs
24 Apr 2021
## AUTOREN
Marius Ochs
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