# taz.de -- Der kurze Sommer des Postnationalen | |
> Über die drohende Rückkehr der Linksliberalen in den Schoß der Nation | |
> und Aleida Assmanns Forderung, sie nicht den Rechten zu überlassen | |
Bild: Ist das die „Macht und Magie, Menschen zusammenzubinden“, die die Nat… | |
Von Sina Arnold und Sebastian Bischoff | |
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat kürzlich in seinem | |
vieldiskutierten Angriff gegen identitäre Strömungen von rechts und links | |
kritisiert, linke Identitäre würden mit ihrer biografischen Betroffenheit | |
andere aus dem Diskurs ausschließen. Dagegen setzt er „Vernunftgründe, die | |
entscheiden sollen, und nicht Herkunft“. Doch als Gegenmittel gegen den | |
Ausschluss empfiehlt Thierse ausgerechnet den Klassiker des | |
Herkunftsarguments, den – wenn man so will – alten weißen Mann des | |
identitären Ausschlusses: die Nation. Man dürfe diese nicht den Rechten | |
überlassen, denn insbesondere in der Pandemie sei das „Bedürfnis nach | |
sozialer und kultureller Beheimatung groß. Eine Antwort auf dieses | |
Bedürfnis ist die Nation“. | |
Thierse reiht sich damit in einen immer lauter werdenden Chor | |
linksliberaler Autor:innen und Politiker:innen ein. Noch vor fünf | |
Jahren hörte sich das anders an. Vielbeachtet konstatierte damals die | |
Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot: „Wir brauchen die Nation nicht | |
mehr.“ Im Zuge der Ankunft Millionen Geflüchteter und destabilisierter | |
Grenzpolitiken kam es bei Teilen der linksliberalen Eliten zum euphorischen | |
Abgesang auf die Nation. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Robert Menasse | |
forderte Guérot, jeder Mensch müsse „in Zukunft das Recht haben, nationale | |
Grenzen zu durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will“. | |
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert J. Shiller sah die Welt im Herbst | |
2016 gar kurz „vor der antinationalen Revolution“. Auch in Deutschland, wo | |
fast jede:r Vierte einen Migrationshintergrund hat, schien vielen während | |
des „langen Sommers der Migration“ die Bedeutsamkeit transnationaler | |
Bezugnahmen und multilokaler Zugehörigkeiten bewusst geworden zu sein. | |
## Das neue N-Wort? | |
Doch die Offenheit war nur von kurzer Dauer. Schon 2018 rief Michael | |
Bröning in einem Buch desselben Titels das Lob der Nation aus und erklärte, | |
warum der Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen werden dürfe. | |
Im gleichen Jahr wurde in SPD-Kreisen mit ähnlichen Argumenten über Nation | |
und Heimat gestritten. | |
Vorsichtiger und tastender argumentierte 2019 [1][Jan Plamper in seinem | |
Buch „Das neue Wir“], einem Plädoyer für eine radikal inklusive | |
postmigrantische Gesellschaft. Diese laufe zwar, so Plamper, eigentlich auf | |
eine Position der offenen Grenzen und eine Weltföderation hin, brauche aber | |
dennoch eine neue „kollektive nationale Identität des Deutschen“. | |
Und aktuell möchte Enrico Brissa in seinem gleichnamigen Buch Flagge | |
zeigen: Besorgt wegen des Rechtsrucks geht er nicht nur für eine offene | |
Gesellschaft auf die Straße, sondern erklärt auch, so der Untertitel, | |
„warum wir jetzt gerade Schwarz-Rot-Gold brauchen“. | |
Die mithin größte Überraschung aber ist das Bekenntnis zur Nation, das die | |
Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin Aleida | |
Assmann seit Kurzem ablegt. Auf der hochkarätig besetzten Abschlusstagung | |
des interdisziplinären Forschungsprojekts „Geschichten in Bewegung“ | |
bekundete sie Anfang März, sie sei „zur Nation zurückgekehrt“. Doch das | |
Reden darüber stelle ein Tabu dar. Assmann habe 15 Jahre lang versucht, | |
transnational zu forschen „und zu tun, als ob es die Nation nicht gebe“. | |
Wer an Universitäten „Nation“ sagte, habe eine schlechte Note bekommen – | |
sie habe „inzwischen schon vom N-Wort gesprochen“. | |
Nun gehört eine Tabubrecherattitüde mittlerweile zum guten Ton und umrankt | |
auch Assmanns gerade erschienenes Buch „Die Wiedererfindung der Nation – | |
Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“. Der | |
Politikwissenschaftler Herfried Münkler etwa attestiert Assmann im | |
Underground-Magazin Frankfurter Allgemeine Zeitung Mut für ihr Werk, das im | |
November bei C. H. Beck erschien und kürzlich zum Sachbuch des Monats | |
gekürt wurde. Mehr gesellschaftliches Abseits ist schwer vorstellbar. | |
Assmann hat eine 300-seitige Polemik mit der These vorgelegt, Nation sei | |
ohne „Gewalt, Menschen auszugrenzen und zu vernichten, möglich“. Das | |
Hauptargument: Man dürfe die Nation nicht den Rechten überlassen, die | |
Gewalt in diese einpflanzten. Assmann dagegen baut ihre Deutschlandliebe | |
auf dem zum europäischen Erinnerungsort verallgemeinerten [2][Auschwitz | |
als Negativmythos] auf. „Wir brauchen ein Inventar der kritischen Fragen“, | |
fordert Assmann. Wer wollte da widersprechen? | |
Aber einfach die kritischen Antworten der Klassiker der | |
Nationalismusforschung wie Eric Hobsbawm und Benedict Anderson als | |
verstaubt zu erklären und deswegen zu ignorieren, überzeugt nicht. Aktuell | |
forsche laut Assmann niemand zur Nation, und sie erwähnt dabei nicht die | |
hochdifferenzierte internationale Nationalismusforschung mit ihren | |
Erkenntnissen etwa zur nationalen Indifferenz der breiten Massen oder | |
dem Verhältnis von Imperium und Nation. | |
Den aktuellen Rechtsruck handelt Assmann mit der Erwähnung zweier rechter | |
Bücher und den „Fake News in den sozialen Medien“ ab – eine neue, hier | |
gänzlich unbegriffene Situation habe sich ergeben, wie sie und ihre Kinder | |
es noch nicht erlebt hätten. Kenntnisse über die rechte Gewaltgeschichte | |
seit 1945, den Aufstieg der NPD, der Republikaner oder die | |
#baseballschlägerjahre: Fehlanzeige. | |
## Ich habe eine Fahne | |
Nun ist diese Debatte um das Lob der Nation von links nicht neu, auch wenn | |
Assmann behauptet, ihr Buch sei keinem „etablierten Diskurs verpflichtet“. | |
Alle paar Jahre melden sich „mutige Stimmen“ und fordern ein entsprechendes | |
Bekenntnis. Aktuell wird mit dem Aufstieg der extremen Rechten | |
argumentiert. | |
Man will offenbar an der „Macht und Magie, Menschen zusammenzubinden“, die | |
die Nation nach Assmann habe, teilhaben und einen Umgang mit der eigenen | |
Ohnmacht angesichts des Rechtsrucks finden. Doch sollte man sich dabei so | |
wenig von den Rechten hertreiben lassen, wie man es bei anderen Begriffen | |
tun würde – niemand fordert schließlich, man müsse den Begriff „Schuldku… | |
von links besetzen oder einen „aufgeklärten Rassismus“ suchen. | |
Allen Versuchen, die Nation von linksliberal zu besetzen – einen „neuen Typ | |
der zivilen Nation“ zu stärken, wie Assmann es will –, ist gemein, dass sie | |
diese als bloße Hülle sehen, deren Inhalt neu zusammengesetzt werden könne. | |
Doch der Inhalt wird stark von der ökonomischen Form, in der | |
Nationalstaaten als Standorte konkurrieren, bestimmt. Auf dieser | |
Grundlage entwickeln sich Feindschaften gegen andere Staaten. Wenn Assmann | |
schreibt, demokratische Nationen führten keine Kriege gegeneinander, | |
vergisst sie insbesondere die, die vermeintlich für den Export der | |
Demokratie geführt werden. | |
Aber auch im Falle der Staatsbürgerschaft produziert jedes noch so | |
heterogene „neue Wir“ notwendigerweise ein „neues Ihr“. Während | |
Freizügigkeit im Schengenraum herrscht, ertrinken die Menschen nun an den | |
europäischen Außengrenzen. Und so sympathisch Versuche sind, die | |
Staatsbürgerschaft republikanisch auszuweiten, ist eines kein Zufall: | |
Niemand der Verfassungspatriot:innen fordert, alle, die der | |
Verfassung zustimmen, mit einem Pass auszustatten. Der Ausschluss bleibt. | |
Die empirische Sozialforschung konnte zudem in den Ausgrenzungspraxen | |
zwischen bösem Nationalismus und poppigem Partypatriotismus wenige | |
Unterschiede entdecken. Und auch der Einschluss in die Nation hat Folgen. | |
Verdrängt wird vielfach der gewaltvolle Prozess, der mit jeder | |
Nationwerdung einherging: als geklärt wurde, wer dazugehören durfte und was | |
mit denen geschieht, die sich der Homogenisierung widersetzen. Heute | |
bezahlen die Eingeschlossenen ins „Wir“ mit dem lebenslangen „Gürtel eng… | |
schnallen“ für den Erfolg des Standorts, im Ernstfall auch mit dem Tod auf | |
dem Feld der Ehre. | |
Bei dieser schweren Hypothek ist kaum verständlich, wieso so wenig | |
postnationaler Mut besteht für die visionäre Suche nach neuen Formen der | |
Zugehörigkeit, anknüpfend an das, was für viele schon eine Lebensrealität | |
ist: sich an verschiedenen Orten der Welt sich zu Hause zu fühlen und in | |
unterschiedlichen Kollektiven – ob Freundeskreise, Familien, Vereine, | |
politische Gruppen oder Städten – beheimatet zu sein. | |
Sina Arnold ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für | |
Antisemitismusforschung der TU Berlin. | |
Sebastian Bischoff ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich | |
Zeitgeschichte der Universität Paderborn. | |
17 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-Nation-und-Gemeinschaft/!5594436&s=jan+plamper/ | |
[2] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296&s=diffuse+erinnerung/ | |
## AUTOREN | |
Sina Arnold | |
Sebastian Bischoff | |
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