# taz.de -- In den Orient, in einem Zug | |
Richtung Bagdad! Vor siebzig Jahren verband ein Luxuszug das heutige | |
Istanbul mit dem Orient. Deutsche Ingenieure schufen die berühmte | |
Bahnlinie. Agatha Christie nutzte für Besuche bei ihrem Ehemann regelmäßig | |
den Schlafwagen nach Aleppo. Was ist vom einstigen Taurus-Express | |
geblieben? | |
VON KLAUS HILLENBRAND | |
„Es war ein kalter Wintermorgen in Syrien. Früh um fünf Uhr wartete auf dem | |
Bahnhof von Aleppo der Zug, der in den Kursbüchern großspurig als | |
‚Taurus-Express‘ bezeichnet wird. Er bestand aus einem Küchen- und | |
Speisewagen, einem Schlafwagen und zwei gewöhnlichen Reisewagen.“ | |
Agatha Christie, „Mord im Orient-Express“, erschienen 1934 | |
Im Haydarpasa, dem asiatischen Bahnhof von Istanbul, wartet jeden | |
Donnerstag früh auf Gleis 7 der Toros-Express auf die Reisenden. Zwölf der | |
dreizehn Wagen sind frisch gewaschen, ihr tiefes Blau glänzt in der | |
Morgensonne. Sie sollen am nächsten Tag nach knapp 27-stündiger Fahrt im | |
türkischen Gaziantep eintreffen. Der dreizehnte und letzte Waggon mit der | |
Nummer 6 hat kein Wasser gesehen und zeigt tiefe Rostspuren an seiner | |
Außenhaut, die einmal weiß und blau gestrichen war. Es ist der einzige | |
Kurswagen ins syrische Aleppo, wie das blecherne Schild neben der | |
geöffneten Waggontür verrät, Ankunft laut Fahrplan am Freitag um 14.34 Uhr. | |
„Waggonbau Görlitz, 1983“ steht unter dem Eingang. Der Schlafwagenschaffner | |
bittet freundlich herein und hilft dabei, die zahlreichen Gepäckstücke zu | |
verstauen. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. | |
Zu den Zeiten, als Agatha Christie regelmäßig von London aus ihren Ehemann, | |
den Archäologen Max Mallowan, besuchte, der in Syrien und im Irak | |
Ausgrabungen leitete, bildete der Taurus-Express das letzte Glied einer | |
luxuriösen Reise von Europa in den Orient. Beginn war nach Überquerung des | |
Kanals Paris, wo der eigentliche Lauf des berühmten Orient-Express begann, | |
der nur die erste und zweite Wagenklasse führte und für den zusätzlich ein | |
besonderer Zuschlag zu entrichten war. | |
Drei Tage dauerte die Fahrt von Calais bis nach Istanbul, die Reisenden | |
wurden umsorgt von den besonders ausgebildeten Angestellten der Compagnie | |
Internationale des Wagons-Lits mit ihren speziellen Uniformen. Einmal in | |
Istanbul angekommen, blieben die Reisenden nicht etwa den Gepäckträgern und | |
vermeintlichen Unbilden türkischer Droschken und Gasthöfe überlassen. Die | |
Gesellschaft des Orient-Express organisierte für ihre wertvollen Gäste | |
selbstverständlich den Transport ins eigens errichtete Hotel in Pera, dem | |
europäischen Viertel der Stadt. | |
Reisen, das bedeutete damals noch eine erhebliche Investition an Zeit – | |
eine Vorstellung, die heute unendlich weit entfernt zu liegen scheint. Eine | |
Stunde nach Paris, drei nach Rom, acht nach New York: Im Zeitalter des | |
Düsenjets ist kein Ziel zu fern, wenn man es nach der investierten | |
Fahrtdauer bemisst. Längst geht es nicht mehr um die Reise, sondern | |
ausschließlich ums Ankommen am Zielort. Der Transport ist nurmehr ein | |
lästiges, aber kalkulierbares Mittel zum Zweck, dessen einzige Überraschung | |
im immer engeren Sitzabstand im Flugzeug besteht. Dafür, immerhin, hat die | |
Exklusivität von damals ein Ende gefunden. Wer früher reiste, war entweder | |
reich, verfolgt oder wanderte in ein neues Leben aus. Die Reisenden von | |
heute müssen keine goldgefüllten Leibgurte oder Kreditbriefe mit sich | |
tragen. Es reichen ein mäßig gefülltes Girokonto und die Kreditkarte. | |
Lässt sich die Zeit zurückdrehen? Können wir Reisen wieder entschleunigen, | |
ohne in die romantizistische Falle von der „guten alten Zeit“ zu tappen? | |
Kaum. Die Oceanliner zwischen Liverpool und New York sind längst abgewrackt | |
– sieht man vom einsamen Vergnügungsdampfer „Queen Mary“ einmal ab. Die | |
großen Expresszüge vergangener Jahrzehnte enden am übernächsten Prellbock. | |
Auch der Orient-Express hat seinen Betrieb längst eingestellt. Am | |
Istanbuler Hauptbahnhof Sirkeci nahe der Hagia Sophia enden nur noch | |
Vorortzüge. Doch wer das 1892 eröffnete Pera Palace Hotel heute durch die | |
große Drehtür betritt, glaubt sich in die alte Zeit zurückversetzt. Dicke | |
Teppiche dämpfen den Schritt auf dem Weg zur Rezeption, deren Einrichtung | |
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstammt. Im lautlos dahingleitenden | |
offenen Aufzug – dem ersten überhaupt im damaligen Osmanischen Reich – | |
bittet der livrierte Führer, auf einer Polsterbank Platz zu nehmen, während | |
man sanft zur vierten Etage emporschwebt. Die Bar mit ihren ledernen | |
Sesseln und dem Aquarium in der Mitte atmet noch den Geist des europäischen | |
Geldadels, der sich dort von den ungewohnten Eindrücken Konstantinopels zu | |
erholen trachtete. | |
Das Hotel, längst nicht mehr der ersten Kategorie zugehörig, nutzt seine | |
glorreiche Vergangenheit: Auf Wunsch kann das recht spartanisch | |
eingerichtete Zimmer besichtigt werden, in dem Agatha Christie einst | |
nächtigte und angeblich den „Mord im Orient-Express“ verfasste – Letzter… | |
eine umsatzfördernde Legende. Und ein älterer Herr, der lange Zeit in | |
Hannover Fabrikarbeit geleistet hat, verkauft im Erdgeschoss Erinnerungen | |
an den berühmten Zug. | |
Die Fahrt zum Bahnhof Haydarpasa auf der asiatischen Seite des Bosporus | |
muss man heutzutage freilich selbst organisieren. Im aufsteigenden | |
Frühnebel verlässt die Fähre ihren Anlegeplatz unterhalb der Altstadt am | |
Goldenen Horn. Zwanzig Minuten später, nach einer Fahrt durch das ruhige | |
Wasser der Meerenge und vorbei an nur schemenhaft sichtbaren Schiffen, | |
glänzt das monumentale Bahnhofsgebäude neben dem Hafen in der Sonne. | |
Agatha Christie nutzte bei ihrer ersten Fahrt in den Orient 1928 die | |
Dienste des Reisebüros Thomas Cook, und bereute es nicht: „Ich war froh, | |
meinen Führer bei mir zu haben, denn auf dem Haydarpasa-Bahnhof ging es zu | |
wie in einem Narrenhaus. Die Leute schrien und brüllten und gestikulierten, | |
um die Aufmerksamkeit des Zollbeamten auf sich zu lenken.“ Heutzutage ist | |
der sorgfältig restaurierte Bahnhof fast menschenleer. Die türkische | |
Staatsbahn ist gegenüber den schnelleren Bussen gewaltig ins Hintertreffen | |
geraten. | |
Der Bus benötigt für die Strecke nach Syrien nur zwanzig Stunden. Das | |
Flugzeug überwindet die Entfernung in gut zwei Stunden. Eisenbahnreisen auf | |
Fernstrecken sind zum Anachronismus geworden. Doch wir wollen reisen und | |
die Entfernung wieder einmal spüren. Es muss doch noch etwas geben zwischen | |
A und B – selbst wenn das Reisen an sich auch in der Vergangenheit | |
natürlich nie Selbstzweck war. Es gibt ein Ziel: Aleppo, die tausende Jahre | |
alte Handelsstadt zwischen Mittelmeer und Mesopotamien. Oder ist doch der | |
Weg das Ziel – und dieser angerostete Waggon Nummer 6 als Heimat auf Zeit | |
besser als jedes Orienthotel? | |
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt, die Koffer sind provisorisch verstaut, | |
doch langsam wird deutlich, dass dem Toros-Express ein wichtiger Waggon | |
fehlt: Ein Speisewagen ist, entgegen allen Erwartungen, nirgends zu | |
erblicken. Die wenigen Reisenden hasten zum Kiosk; Brot, Käse, Cracker, | |
Kekse und Wasser müssen her. Dann, pünktlich um 8.55 Uhr, ein leichter | |
Ruck, und der Zug verlässt Istanbul. Die Entschleunigung beginnt | |
vielversprechend im Schneckentempo. | |
Es ist nicht nur eine Reise auf den Spuren der englischen Schriftstellerin | |
Agatha Christie. Die Bahn selbst ist ein Zeugnis deutschen Kapitals und | |
Expansionsdrangs. Haydarpasa, eingeweiht im Jahre 1909, erinnert mit seinen | |
Türmchen nicht zufällig an wilhelminische Prachtbauten in Berlin. | |
Anatolische und Bagdadbahn sind unter Leitung deutscher Fachleute errichtet | |
worden, den Bahnhof baute die Firma Philipp Holzmann, für die Finanzierung | |
sorgte die Deutsche Bank. | |
Der Kaiser zeigte besonderes Interesse am Bau, entsprach die Strecke doch | |
seinem Streben nach dem „Platz an der Sonne“, den er seinem Reich im Orient | |
zu schaffen trachtete. Georg von Siemens, Vorstandssprecher der Deutschen | |
Bank von 1870 bis 1900, hatte dieses Engagement lange Zeit skeptisch | |
beobachtet: Die „obwaltenden politischen Verhältnisse“ ließen es „nicht | |
rätlich erscheinen, sich auf weitaussehende Unternehmungen einzulassen, | |
selbst wenn mit Gewissheit auf eine Rentabilität gerechnet werden dürfte“, | |
schrieb er im Jahr 1887. | |
Dem Druck der Politik jedoch konnte und wollte die Bank nicht | |
widersprechen, und die betrachtete eine deutsche Eisenbahn bis nach Bagdad | |
als ein politisches Instrument zur Sicherung deutscher imperialistischer | |
Interessen – gegen England und Frankreich, die im Orient die Strippen | |
zogen. 1889 wurde die Anatolische Eisenbahngesellschaft gegründet, um den | |
Bau voranzutreiben. | |
Der Toros-Express bummelt dahin. Die dreizehn Waggons schleichen durch die | |
Vororte Istanbuls, halten an diversen kleinen Bahnhöfen. Entlang dem | |
Marmarameer wechseln rasch erbaute Wohnkomplexe, Industrieansiedlungen und | |
militärisch genutzte Hafenanlagen einander ab. Bis Izmit haben sich die | |
Verspätungen auf vernachlässigenswerte zwanzig Minuten summiert. Dort löst | |
der junge Schaffner sein Versprechen ein und macht in dem fast leeren Wagen | |
aus zwei Doppelabteilen ein großes Vierer-Apartment mit frisch bezogenem | |
Doppelbett, Sitzbank und gleich zwei ausklappbaren Waschgelegenheiten. Doch | |
ein Gang durch den Zug wird schon am Ende des Schlafwagens der Syrischen | |
Staatsbahn gestoppt: Die Reisenden nach Aleppo sind vom großen türkischen | |
Rest des Zuges durch eine Tür mit einer dicken rostigen Schraube getrennt | |
und vom Rest des Zugs hermetisch abgeschlossen. | |
Der Bau der Anatolischen Bahn begann 1889, und schon ein Jahr später konnte | |
die erste Teilstrecke eröffnet werden. Der osmanische Sultan verpfändete | |
dazu die Getreideeinnahmen ganzer Provinzen, die von der Strecke durchzogen | |
wurden. Das sollte garantieren, dass die vertraglich festgelegte | |
Mindesteinnahme auch dann floss, wenn es nicht genug Güterverkehr geben | |
sollte und zu wenige Reisende die Züge nutzen sollten. Damit trug das | |
nahezu bankrotte Osmanische Reich praktisch alle finanziellen Risiken für | |
die Bahn in den Orient. | |
Unser Zug verlässt die Küste und durchfährt nun enge Täler und Schluchten | |
mit üppiger Vegetation. Brücken und kurze Tunnel wechseln einander ab. Die | |
freundliche Landschaft erinnert an europäische Mittelgebirge, dasselbe gilt | |
für die vielen kleinen Bahnhöfe, an denen dieser „Express“ genannte | |
Bummelzug Station macht: Es ist unzweifelhaft deutsche Architektur des | |
frühen 20. Jahrhunderts, die hier in die Türkei versetzt worden ist. Selbst | |
die ziegelgedeckten, steinernen Aborte neben den Hauptgebäuden machen den | |
Eindruck, als entstammten sie der schwäbischen Eisenbahn. Auch die | |
Bahnbeamten an der Strecke waren in den Frühzeiten der Eisenbahn Deutsche. | |
Heute stehen türkische Staatsbedienstete stramm, wenn der Zug in Arifiye, | |
Pamukova oder Bayirköy hält. | |
„Der Übertritt von Europa nach Asien geschah fast unmerklich, aber ich | |
hatte das Gefühl, als ob die Zeit hier weniger Bedeutung hätte“, erinnerte | |
sich Agatha Christie. „Gemächlich zuckelte der ‚Express‘ die Küste des | |
Marmarameeres entlang und kletterte dann in die Berge hinauf – es war | |
unbeschreiblich schön.“ | |
In Eskisehir, wo die Strecke nach Ankara abzweigt, hat der Toros-Express | |
schon fast eine Stunde Verspätung. Lange stehen wir im Bahnhof, die | |
Lokomotive wird ausgewechselt. | |
Danach wird die Landschaft karger, und irgendwann sind die Augen müde von | |
so viel Aussicht. Zwangsläufig geht der Blick auf das Naheliegende, den Zug | |
und die Mitreisenden. Der Wagengang wird zum Treffpunkt. Da ist ein | |
syrisches Ehepaar mit Kleinkind, von denen nur der Mann sichtbar wird, weil | |
Frau und Kind ihr Abteil nicht verlassen. Ganz am anderen Ende des Waggons | |
ist das Abteil einer allein reisenden Italienerin – oder kommt die | |
mittelalterliche Dame aus Spanien? Ein Pärchen aus Istanbul – er Jordanier, | |
sie Palästinenserin – will nach Amman, den kranken Vater besuchen. Dann | |
gibt es noch den syrischen Schlafwagenschaffner und seinen türkischen | |
Kollegen, der irgendwann aussteigt, die zwei Deutschen – das ist die ganze | |
Reisegesellschaft, die nun, bei anbrechender Dunkelheit, damit beginnt, die | |
Aschenbecher bis über den Rand mit Kippen zu füllen. Der Zug rollt, steht | |
an einer Station, rollt wieder. Konya ist noch weit weg. | |
Es wird dunkel, und Shadi aus Istanbul bringt Cracker, die er gegen | |
Schmelzkäse eintauscht. Der Schaffner sorgt für Tee und lässt die Heizung | |
laufen, bis man nur noch am geöffneten Fenster im Gang stehen mag. Judy | |
erzählt von ihrer Arbeit als Sprachlehrerin. An der Leiter zum oberen Bett | |
fehlen fast alle Sprossen, und der Teppichboden zeigt eine fleckige | |
Farblandschaft. Der Zug rollt. Wie war das bei Agatha Christies | |
Meisterdetektiv Hercule Poirot bei dessen Reise? Da fuhren gar nur drei | |
Gäste im Schlafwagen – zwei von ihnen entpuppen sich später als Mörder. | |
Im Jahr 1928, als nicht die Kunstfigur Poirot, sondern die Schriftstellerin | |
selbst zum ersten Mal in den Orient aufbrach, war der Taurus-Express noch | |
gar nicht eingerichtet worden, und Christie musste mit Regionalzügen | |
vorlieb nehmen. Erst zwei Jahre später, 1930, wurde mit dem Taurus-Express | |
der erste Luxuszug Kleinasiens auf die Schienen gestellt. Die | |
abenteuerliche Strecke durch das gleichnamige Gebirge zwischen Konya und | |
Adana war da erst seit zwölf Jahren fertig gestellt. Finanzielle | |
Schwierigkeiten und technische Probleme hatten den Bau der Bagdadbahn | |
verzögert. „Keine Aborte im Zug“, warnt der Baedeker noch 1914 vor einer | |
Bereisung einer damals gerade fertig gestellten Teilstrecke. | |
Was wir heute als Entschleunigung verstehen, galt damals allerdings als | |
unglaublicher Fortschritt. Statt Wochen auf Pferden zu verbringen, war eine | |
Reise in wenigen Tagen möglich – auch wenn die Züge anfangs nur tagsüber | |
unterwegs waren. „Wir haben in Europa nahezu verlernt, den Wert einer | |
Bahnverbindung, besonders auf weite Entfernung, genug hoch einzuschätzen“, | |
notiert der Orientreisende E. von Hoffmeister im Jahre 1910, als er nach | |
Monaten beschwerlichen Reisens den ersten Schienenstrang erblickt: den der | |
Bagdadbahn. In seinem Buch „Kairo – Bagdad – Konstantinopel“ schreibt er | |
vom „berauschenden Zauber“, den „ein Bahnkörper, Schienen, Wagen und der | |
Pfiff einer Lokomotive auf uns Kulturmenschen auszuüben vermögen“. | |
Auf bis zu 1.467 Meter windet sich die eingleisige Strecke durch | |
Schluchten, Tunnel und über Viadukte hinauf und folgt dabei der uralten | |
Handelsstraße nahe der Kilikischen Pforte, wo schon Alexander der Große, | |
Griechen und Römer vorbeizogen und wo im Juni 1190 Kaiser Friedrich | |
Barbarossa während des Kreuzzugs nach Palästina beim Baden den Tod fand. Zu | |
sehen gibt es vom Gebirgspanorama heutzutage freilich nichts, denn der | |
Express durchfährt die Region mitten in der Nacht. | |
Früh am Morgen durcheilt der Zug die weite Ebene von Adana. Zum Frühstück | |
gibt es Cracker und Kaffee. Orangenplantagen links und rechts, es wird | |
rasch wärmer. Die Verspätung beträgt jetzt vier Stunden. | |
In Adana endloses Rangieren, zwei Wagen werden beiseite gestellt. So wird | |
Reisen wieder ein sinnliches Erlebnis. Aber muss es gar so lange dauern? | |
Wir haben doch ein Ziel, Aleppo, ganz anders als Kreuzfahrtpassagiere, die | |
sich einmal über Wasser im Kreis herumdrehen. Und so sehenswert ist der | |
Bahnhof von Adana nun auch nicht. | |
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte nicht nur Kaiser Wilhelm | |
ausgespielt, auch die hochfliegenden Pläne von einer deutschen Kontrolle | |
des Orients waren beendet. Der türkische Teil der Bagdadbahn wurde 1928 | |
Staatsbesitz Ankaras. 440 Millionen Schweizer Franken betrug der Preis, | |
zahlbar in Raten bis zum Jahr 2002. Doch von 1944 an stellte die Türkei | |
alle Zahlungen ein. Die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft blieb auf Kosten | |
in Höhe von 35 Millionen Franken sitzen. | |
Der Südosten des Osmanischen Reichs kam nach Kriegsende unter die Kontrolle | |
Großbritanniens (Irak, Palästina) bzw. Frankreichs (Syrien). Noch war das | |
Flugzeug keine ernsthafte Konkurrenz. Die Compagnie Internationale des | |
Wagons-Lits konnte also auf einen Erfolg für einen Luxuszug von Istanbul in | |
den Orient hoffen. „London–Bagdad in acht Tagen mit dem Simplon-Orient | |
Express & dem Taurus-Express“ warb 1931 ein Plakat der Gesellschaft, das | |
zugleich „Sicherheit, Schnelligkeit, Wirtschaftlichkeit“ versprach. Das war | |
sensationell. Tatsächlich wies die Bahnlinie damals im Irak noch eine | |
beträchtliche Lücke auf, die mit Autobussen überbrückt werden musste. | |
Agatha Christie hat zu Besuchen bei ihrem Mann Max Mallowan diesen Weg oft | |
genommen. Einmal, 1931, saß sie in Nisibin, dem damaligen Endpunkt der | |
Bahn, im syrisch-irakischen Grenzgebiet zwei Tage lang fest, weil der Regen | |
eine Weiterfahrt nach Mossul unmöglich machte. „Das Essen war immer das | |
gleiche: Rühreier und zähes Huhn. Ich las das einzige Buch, das ich bei mir | |
hatte; dann blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit meinen Gedanken zu | |
beschäftigen“, schreibt Christie. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie später | |
in dem Roman „Verdrängter Verdacht“. | |
Nach Süden hin reichte eine Abzweigung des Taurus-Express bis nach Kairo. | |
Freilich fehlten zwischen Tripolis und Haifa die Gleise, weshalb auch dort | |
auf einen Busservice zurückgegriffen werden musste. „London–Kairo in sieben | |
Tagen mit dem Zug“, annoncierte die Gesellschaft des Orient-Express | |
dennoch. | |
Der heutige Toros-Express durchfährt die fruchtbare Tiefebene von Adana, | |
vorbei an Dörfern, Autobahnen und der Kreuzritterburg Toprak Kalesie, die | |
auf einem Hügel thront. Niemand leert die Aschenbecher im Gang. Die Augen | |
schmerzen inzwischen vom übersteigerten Konsum der mitgeführten Lektüre. | |
Dem Schaffner ist der Kaffee ausgegangen, uns der Gesprächsstoff. Weiter | |
geht es hinauf in das dicht bewaldete Amanusgebirge. Eine wunderschöne | |
Landschaft für denjenigen, der jetzt noch schöne Landschaften sehen möchte. | |
Langsam durchkriecht der Zug Tunnel um Tunnel. Es ist längst Mittag | |
geworden, und eigentlich müssten wir jetzt schon kurz vor Aleppo in Syrien | |
sein. Man kann es mit der Entschleunigung auch übertreiben, ist die | |
übereinstimmende Meinung im Wagen Nummer 6. | |
Irgendwann hat der Zug das Gebirge überwunden und erreicht eine nahezu | |
vegetationslose Hochebene und mit ihr endlich den Bahnhof von Fevzipasa. | |
Hier trennen sich die Strecken für die vielen Wagen in Richtung Gaziantep | |
und unseren einen angerosteten Waggon nach Syrien auf der alten Bagdadbahn. | |
An diesen wird eine endlose Reihe Güterwagen angekoppelt, und weiter geht’s | |
ins nur wenige Kilometer entfernte Islahiye. Über einhundert Menschen, | |
bepackt mit schweren Säcken und gewaltigen Koffern, haben am Bahnsteig | |
stundenlang auf den verspäteten Toros-Express warten müssen. Sie dürfen nun | |
in zwei angehängten alten Wagen hinter der rußenden Diesellokomotive Platz | |
nehmen. | |
Die durchgehende Bahnverbindung von Istanbul bis nach Bagdad wurde erst im | |
Jahre 1940 fertig gestellt. Vier Tage dauerte die komplette Reise in den | |
neuen, stählernen Schlafwagen. Kairo hingegen hat nie ein Zug aus Europa | |
erreicht. Im Zweiten Weltkrieg erbauten britische Truppen zwar die fehlende | |
Verbindung zwischen dem libanesischen Beirut und Haifa in Palästina. Doch | |
noch bevor die Gleise verlegt waren, sprengten Angehörige der jüdischen | |
Haganah im Kampf für die Unabhängigkeit Israels einen Tunnel nahe der | |
heutigen Grenze zum Libanon in die Luft. | |
Nach dem Krieg blieb die Grenze zwischen beiden Staaten hermetisch | |
geschlossen – bis heute. Kein Bedarf für einen Luxuszug. Und auch der alte, | |
luxuriöse Taurus-Express verschwand im Zweiten Weltkrieg für immer von den | |
Schienen. Er fiel umstandslos der Beschleunigung des Reiseverkehrs durch | |
das Flugzeug zum Opfer. | |
Türkische Soldaten, die im Gang unseres Schlafwagens stehen müssen, | |
begleiten den Zug auf den letzten Kilometern bis zur syrischen Grenze. Der | |
Express fährt nur noch im Schritttempo. Was soll man tun? Telegrafenmasten | |
und Schienenstöße zählen? Das Buch wieder aufklappen? Mit dem Schaffner die | |
Verspätungen addieren? | |
Dann tauchen in der kargen Steppenlandschaft Zäune und Wachtürme auf. Kurz | |
darauf läuft der Toros-Express nach nunmehr 30-stündiger Fahrt im syrischen | |
Maydan Ikbis ein. Wieder ein deutsches Bahnhofsgebäude mit | |
schindelgedecktem Dach. Pässe werden eingesammelt. Die Fernreisenden sind | |
privilegiert und dürfen im Zug sitzen bleiben. Fahrgäste im „kleinen | |
Grenzverkehr“ müssen aussteigen und Säcke und Kisten öffnen. | |
Es dauert rund eine Stunde, bis der Zug wieder anruckt. Die Dunkelheit | |
bricht herein. Das Schotterbett unter den alten Gleisen der Bagdadbahn ist | |
fast verschwunden, und so schwankt der Toros-Express auf der kurvenreichen | |
Strecke nach links und rechts wie ein Schiff bei schwerem Seegang. Richtung | |
Aleppo. Noch zehn Minuten, sagt der Schaffner mindestens zum dritten Mal. | |
Die Fahrgäste stehen rauchend im Gang und blicken in die Nacht. Droht etwa | |
noch ein Abendessen mit Brot und Crackern? | |
Um halb sieben Uhr tauchen viele Lichter auf. Es ist 19.30 Uhr, als der | |
Zug, inzwischen nur noch aus einem einzigen Wagen und dafür gleich zwei | |
Lokomotiven bestehend, quietschend im Hauptbahnhof von Aleppo hält. 34 | |
Stunden, 30 Minuten für fast 1.500 Kilometer, immerhin 30 Minuten weniger | |
als im Jahre 1939. | |
Die Reisenden sind nicht von Wanzen überfallen worden wie Agatha Christie | |
bei ihrer ersten Fahrt („Die Tierchen fielen hungrig über die saftigen | |
Reisenden her“). Die Betttücher waren sauber gestärkt und gefaltet. Die | |
Gleise von Krupp haben keinen Schienenbruch erlitten. Vom einstigen Luxus | |
des Taurus-Express freilich ist wenig bis nichts geblieben, an eine | |
Weiterfahrt nach Bagdad gar nicht zu denken. Und gründlich entschleunigt | |
sind wir alle – gründlicher, als wir es uns jemals vorstellen konnten. | |
Aber dafür hat es während der gesamten Reise nicht eine einzige | |
Fahrkartenkontrolle gegeben. | |
KLAUS HILLENBRAND, geboren 1957, ist Chef vom Dienst bei der taz | |
16 Jul 2005 | |
## AUTOREN | |
KLAUS HILLENBRAND | |
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