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# taz.de -- Volkseigene Betriebsamkeit
> Bilder der Gemeinschaft, Bilder der Schande: Das Fotobuch „Röhren aus
> Schöneweide“ mit Dokumenten zur Fernsehelektronik in der DDR ist auch
> eine Chronik der Arbeit
Bild: Schönheit der Technik: Mann und Frau beim Aufrichten der Antenne des Fel…
Von Peter Funken
Die Geschichte beginnt 1890 im Kaiserreich. Damals entstand im Südosten
Berlins nahe der Spree im heutigen Oberschöneweide ein Industriegebiet.
Triebkraft dafür war die gerade erst gegründete AEG: Zuerst entstand eine
Fabrik für Akkumulatoren, dann das Kabelwerk Oberspree (KWO) und eine
Fabrik für Elektro-Automobile. 1921 kam ein Transformatorenwerk (TRO)
hinzu. Oberschöneweide wurde zu einem der größten Standorte für
Elektrotechnik in Europa. Ab 1938 fertigte man moderne Elektronenröhren,
das war die Keimzelle für das spätere Werk für Fernsehelektronik (WF). Das
Ende des Zweiten Weltkriegs – Oberschöneweide lag nun im sowjetischen
Sektor – bedeutete auch das Ende für die AEG in Berlin, nicht aber für die
Herstellung von Elektrotechnik, denn im Osten der Stadt sollte Schöneweide
mit den großen Werken TRO, KWO und WF noch lange das Zentrum für
elektrotechnische Produkte sein.
Davon und von viel mehr handelt ein Fotobuch, das mit annähernd 200
Abbildungen die DDR-Röhrenproduktion seit den 1950er Jahren bis zur
Schließung vom Werk für Fernsehelektronik 1993 dokumentiert. Ausgehend von
dem immensen Fotoarchiv zur Werksgeschichte, das mit seinen 25.000 Abzügen
und Negativen im „Industriesalon Schöneweide“ untergebracht ist, zeigen
Albert Markert und Steffen Wedepohl mit einer Auswahl von circa 200 Fotos
anschaulich eine Chronik der Arbeit und ihrer Bedingungen. Das Fotoarchiv
besteht vor allem aus Schwarz-Weiß-Bildern, die Joachim Köhler,
Werksfotograf und Leiter der Fotostelle, seit 1945 zusammen mit Kollegen
herstellte. Erst in den frühen 1970er Jahren finden sich vermehrt Farbfotos
– kaum überraschend, war es doch die Zeit, in der Farbe in der Fotografie
und beim Fernsehen zum Standard wurde.
Der größte Teil des Archivs besteht aus Technikaufnahmen. Um aber das
Fotobuch lebendig und unterhaltsam zu machen, wurde darin dem Mikrokosmos
vom Werk für Fernsehelektronik viel Platz gegeben: Bilder von
Weihnachtsfeiern, werkseigenen Einrichtungen wie Bibliothek, Jugend- und
Sportclub, FDJ-Bar, Werkszeitung, Kita, Schneiderei, Gesundheitswesen und
Feriendomizil zeigen all das, was ein großer Volkseigener Betrieb den 9.000
Werktätigen bot.
Das Bildmaterial besitzt den Reiz hochprofessioneller
Schwarz-Weiß-Fotografie, überall überzeugende Kompositionen, hohe
Tiefenschärfe und vielfältige Abstufungen bei Grauwerten.
Großes Thema war der Mensch bei der Arbeit. Da es um komplizierte
Elektrotechnik ging, war es nötig, fotografisch diese Arbeit als komplexen
Vorgang zu dokumentieren, von vielen und Einzelnen, die mit Material und
Maschinen in exakten Abläufen Präzisionsprodukte herstellen: TV-Röhren,
Transistoren, auch eine elektrische Orgel oder Nachrichtentechnik für
militärische Auftraggeber entstehen.
Bei dem, was wir leichthin Dokumentarfotografie nennen, geht es stets um
die Inszenierung von Realität, und so wird im Fotobuch die Arbeit als
gemeinsames Ziel inszeniert, im Sinne der gesellschaftlichen Idee in der
DDR. Das bedeutet hier, Widersprüche werden ausgeblendet. Die Fotos,
besonders jene der frühen Werksphase, besitzen oft etwas unsentimental
Anrührendes, denn sie zeigen die menschliche Nähe der Arbeitenden
zueinander und natürlich auch zu den Dingen, die sie konzentriert
herstellen. Die Darstellung von Hingabe, sogar Wärme der arbeitenden
Menschen untereinander macht das Besondere solcher Bild-Inszenierungen
aus; damit entsteht die Vorstellung einer Arbeitsatmosphäre, in der
Kollegiales und die Betonung der Gemeinschaft viel ausgeprägter war als in
der Gegenwart.
Aber Vorsicht, hier liegen vergiftete Äpfel auf dem Tisch, denn wir wissen,
dass die ostdeutsche Republik auch Überwachungsstaat war, dass die
durchorganisierte Jugend und das gesellschaftliche Gemeinschaftsgefühl
nichts anderes erschaffen hat als eine etwas bessere Volksgemeinschaft, in
der arbeitenden Ausländer*innen kein gutes Leben gegönnt wurde.
Machen wir uns nichts vor, der Fotostelle samt der Zeitschrift WF-Sender
ging es um ein geschöntes Selbstbild des sozialistischen Staates. Wer nicht
mitmachte, wem es zu spießig war, war draußen.
An einem Beispiel zeigt das Buch, dass in dem Werk auch noch ein anderer
Geist herrschte: Es sind Fotos, die einen Mann und eine Frau mit spitzer,
roter Gumminase und falschem Schnauzer zeigen. Die „Rote Nase“ war als
Strafe gedacht für Werktätige der Grundeinheiten der FDJ, die im Wettbewerb
zu den V. Weltfestspielen in Warschau 1955 nicht aktiv genug Spenden und
Mitglieder eingeworben hatten. Das Bild des Mannes wurde in der
Betriebszeitschrift WF-Sender am 27. Juli 1955 veröffentlicht, das der Frau
nicht. Offensichtlich hatte man die Fotos im Voraus geschossen, um sie bei
Bedarf verwenden zu können.
Albert Markert und Steffen Wedepohl: „Röhren aus Schöneweide.
Fernsehelektronik für die Republik“. 128 S., Sutton Verlag 2020, 20 Euro
27 Mar 2021
## AUTOREN
Peter Funken
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