# taz.de -- Jeden Abend um Punkt neun | |
> Weit über 1.000 satirisch-scherzhafte Strophengedichte hat der | |
> unübertroffene Meister im Aufbau eines Spannungsbogens hinterlassen. Vor | |
> 90 Jahren starb der Varieté-Humorist Otto Reutter | |
Bild: Otto Reutter und die Tänzerin Dund Saharet Foto: | |
Von Bettina Müller | |
Es knistert und es rauscht. Abrupt setzt das blecherne Orchester ein und | |
Otto Reutter singt in borniertem Tonfall sein Couplet „Immer korrekt“ aus | |
dem Jahr 1910. Es ist auf einer historischen Schallplatten-Tonaufnahme | |
verewigt worden, die man sich auch auf Youtube | |
([1][www.youtube.com/watch?v=J34cNI12du8&t=2s]) anhören kann. Sehr treffend | |
gerät seine Parodie auf die Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, die dem | |
Preußentum huldigt, in der der Adel tun und lassen kann, was er will, und | |
in der sogar die Eisenbahnspeisewagen nach Klassen unterschieden werden. | |
Die dritte Klasse hat eben Pech gehabt, als „niedere Rasse“ wird sie | |
kurzerhand mit den Essensresten der Hautevolee gefüttert. Wahrlich ein | |
trauriger, wie Reutter weiter singt, „Kern, der im Preußen drin steckt“. | |
Die Couplets sind die Meisterwerke des selbst ernannten Humoristen Otto | |
Reutter, der seinen Beruf bei seiner zweiten Heirat 1919 mit Marie Bendrien | |
auf dem Berliner Standesamt selber so angeben wird. Die Pfeile des Spotts | |
federleicht und treffend zugleich abzuschießen, dafür bedarf es eines hohen | |
Maßes an Beobachtungsgabe, Talent und Keckheit. Weit über 1.000 solcher | |
satirisch-scherzhafter Strophengedichte hat Reutter hinterlassen. | |
Bei seinen Auftritten auf den Varietébühnen entpuppte er sich dabei als | |
unübertroffener Meister im Aufbau eines Spannungsbogens, der gegen Ende | |
noch einmal in einer messerscharfen Pointe kulminierte. Und auch in seinem | |
„korrekten“ Preußenspottlied nahm er völlig unvermittelt einen schneidigen | |
Kasernenhofton mit rollendem r an. Das Ergebnis: volle Häuser, Menschen, | |
die nach seinem Gesang vor Lachen fast vom Stuhl fielen, während des | |
Maestros Kulleraugen vor Freude strahlten. | |
Dabei hatte alles etwas schleppend angefangen. Mit dem Geburtsnamen | |
Friedrich Otto August Pfützenreuter kann man nur schwerlich als Don Juan | |
die Herzen des Publikums erobern. Der 1870 in Gardelegen in der Altmark | |
geborene Kaufmannssohn war aber nun mal dem dramatischen Bühnenfach | |
zugetan: „Wollt’ zum Theater. Krach mit dem Vater. Kaufmann gelernt. | |
Heimlich entfernt“. Otto suchte das Weite, wurde vom Vater wieder | |
heimgeholt, es folgte mehrmals dasselbe Spiel, bis er 19 Jahre alt war und | |
man nicht mehr über ihn bestimmen konnte. Also ging es auf nach Berlin, wo | |
er mal hier Kulissen schob und dort als Statist mitwirkte. | |
Doch ein bierernster Otto Normalverbraucher – Tucholsky beschrieb ihn | |
einmal als „ein dicker, gewöhnlich aussehender Mann“ und als „schlecht | |
rasierten Droschkenkutscher mit Stielaugen“ –, der wollte nicht gefallen, | |
und man ermunterte den jungen Mann, mal etwas Heiteres zu dichten. Otto | |
schaltete also den Knopf um, denn mittlerweile hatte er verstanden, dass | |
man ihm den bierernsten Barden nicht abnahm: „Die ernste Muse verließ ich | |
alsdann, Bei der heiteren klopfte ich schüchtern an. Jetzt schien am Ziel | |
ich, Denn jetzt gefiel ich, Kriegte viel Geld. – Komische Welt.“ | |
Als Otto Reuter – noch mit einem „t“ im Namen – trat er 1895 ganz allei… | |
auf einer Bühne in Bern auf, das Publikum schwelgte in Hilarität, ein | |
fulminanter Erfolg. Ein Jahr später heiratete er die Balletttänzerin Olga | |
Nock, ein Jahr später wurde sein Sohn Otto geboren. | |
Weil sich in Bern auch ein Theateragent aus Berlin vor Lachen gebogen | |
hatte, rissen sich schon bald deutsche Varietébühnen um ihn und schon bald | |
konnte er – nach einem Rechtsstreit mit einem Künstler namens Martin Reuter | |
nun als Otto Reutter – in Berlin auf der Bühne schmettern: „Jeden Abend um | |
Punkt neun, Muß ich furchtbar lustig sein“ oder „Ob in Sorgen und Verdruß, | |
Will man denn? Man muß!“. Das Ende vom Couplet: Standing Ovations im | |
Berliner American-Theater und alles grölte begeistert: „Man muß!“ | |
Ab 1899 erhielt Reutter ein dauerhaftes Engagement im Berliner | |
Wintergarten. Der Ursprung dieses Varietétheaters war der Wintergarten des | |
am 1. September 1880 eröffneten Centralhotels an der Friedrichstraße, das | |
seit Herbst 1887 offiziell als Varieté-Veranstaltungsstätte diente, bis es | |
am 21. Juni 1944 im Krieg zerstört wurde. Zufrieden konnte Reutter als neu | |
gekrönter König des Couplets in das neue Jahrhundert tänzeln. | |
1906 war sein Ruf als „Deutschlands erfolgreichster, produktivster und | |
bestbezahlter Varieté-Humorist“, wie es in einer Werbung in der Zeitschrift | |
Fliegende Blätter hieß, längst gefestigt. Und die Berliner liebten „ihren�… | |
Otto Reutter, dem man schon längst nicht mehr anhörte, dass er aus der | |
Provinz stammte, abgöttisch, und Reutter dankte es ihnen zuverlässig mit | |
Couplets wie „Berlin, Berlin, trotz alle deine Fehler lieb’ ick dir mehr | |
als jede andre Stadt“. Er war einer von ihnen, zumindest klang er so, und | |
er sah auch so aus. | |
Und wenn der Mann aus dem Volk dann noch in absurden Verkleidungen wie zum | |
Beispiel im Kostüm einer Spreewalddame die Bühne kaperte, sich also zum | |
„Wurstl“ –Tucholsky meinte wohl: zum Deppen – machte, schnappte so manch | |
einer vor Lachen nach Luft: „Er haucht seine Pointen in die Luft, und alles | |
liegt auf dem Bauch.“ | |
Minimaler Einsatz, größte Wirkung, aber auch höchste Alarmbereitschaft bei | |
der Berliner Polizei. Auf Geheiß kaiserlicher Hüter von Sitte und Moral | |
musste sie Reutters Veranstaltungen besuchen, um mögliche Zensurverstöße zu | |
erlauschen, die der schlaue Reutter dann einfach weghustete. Zuverlässig | |
schallte jedes Mal ein Hust-Echo aus dem nicht minder schlauen Publikum | |
zurück. | |
Was die gut gelaunten Berliner jedoch nicht ahnen konnten: von der Zensur | |
zur Zäsur war es nicht mehr weit. Nach dem Inferno des Ersten Weltkriegs | |
war ihnen erst einmal das Lachen vergangen. Um die Dämonen der | |
Vergangenheit und auch der Gegenwart zu besiegen, rief die Zeit verstärkt | |
nach beißendem Spott, nach entlarvender Ironie. | |
Nicht alle Künstler schafften diese Transition oder hatten den Willen dazu | |
und verharrten stattdessen im Altbewährten. Reutter war in seiner | |
Themenauswahl stets flexibel und aktuell gewesen, hatte dabei sein Fähnchen | |
dabei aber auch schon mal stark nach dem Wind gedreht. So trennte ein | |
Spottgedicht à la „Ich bin ein echter deutscher Patriot“ aus dem Jahr 1903 | |
und die Kriegsbegeisterung ab 1914, die in Reutters Durchhalte-Revue namens | |
„Berlin im Krieg“ im Palast-Theater am Zoo mündete, ein ganz großer | |
Schützengraben. Gar grausig klingen heute Zeilen à la „Zur Zeit gibt’s nur | |
einen Reim, Und dieser Reim, der reimt sich auf ‚Krieg‘. Das ist ein Wort �… | |
es lautet ‚Sieg‘“. | |
Der Tod seines Sohnes vor Verdun 1916 machte Reutters von Tucholsky so | |
geschmähten „Radaupatriotismus“ ein Ende, und auch seine Couplets wurden | |
mitunter schwermütig, weil der Kummer nicht mehr ganz so unbeschwert | |
weggelacht werden konnte: „Ich möchte’ erwachen beim Sonnenschein, Und es | |
müßt’ alles wie früher sein.“ Aber nichts war mehr wie früher. Doch was… | |
Reutter ohne die Bühne? Hyperaktiv flüchtete sich der Rastlose genau | |
dorthin wieder zurück und wählte einen neuen Weg: Galgenhumor. Einer Tour | |
durch deutsche Lande verpasste er daher schon mal den Titel „Mir is et | |
ejal!“. Ob das auch hinter den Kulissen so war, konnte das Publikum nicht | |
wissen. Berlin blieb seinem adoptierten Urberliner aus Gardelegen treu, der | |
weiter ulkte und sang, als gäbe es kein Morgen mehr, und auch auf sein | |
jährliches Engagement im Wintergarten, aus dem 30 Jahre wurden, konnte man | |
sich verlassen. | |
Reutter war erst 60, als der jahrelange Raubbau an seinem Körper seinen | |
Tribut forderte. Am 3. März 1931 erlag er in Düsseldorf einem Herzinfarkt. | |
Kurz zuvor hatte er noch in sein Tagebuch notiert: „Der Mann hat Glück | |
gehabt, so sagen sie. Der Mann war fleißig, sagt man nie.“ Otto Reutter, | |
dem Tucholsky mit „welch ein Könner auf seinem Gebiet!“ das größte | |
Kompliment gemacht hatte, hatte somit ganz bescheiden weitere Eigenschaften | |
unterschlagen: Talent und Witz. Reutters mitunter zeitlose Couplets sind | |
bis heute unverwüstlich. Sehr beliebt sind zum Beispiel die | |
„Otto-Reutter-Abende“ mit dem Schauspieler Walter Plathe, die man nach der | |
Coronapandemie hoffentlich auch wieder auf deutschen Kleinkunstbühnen | |
genießen darf. Die Legende lebt, und auch Reutter ahnte damals schon: | |
„Leute von heute, die lachen lieber.“ | |
2 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=J34cNI12du8&t=2s | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
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