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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Sponsoren des Brexit
> Vor dem Brexit-Referendum flossen zwei Drittel der Finanzsektor-Spenden
> in die „Leave“-Kampagne. Warum die Branche mehrheitlich für den Austritt
> war.
Bild: Viele in der Finanzbranche träumten von einem „Singapore-upon-Thames“
Am 24. Juni 2016 rieben sich Menschen rund um den Globus die Augen. Auf die
Frage „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union
bleiben oder austreten?“, hatten 51,9 Prozent der Wähler für „Leave“
(„austreten“) gestimmt.
Für viele kam dieses Resultat überraschend. War die von allen politischen
Kräften verhätschelte Londoner City nicht unisono für ein „Remain“ („d…
bleiben“) eingetreten? Was war passiert? War der mächtigste Finanzsektor
Europas nicht mächtig genug, sich in einer so wichtigen Zukunftsfrage Gehör
zu verschaffen?
In Wirklichkeit hatte sich die City zwar demonstrativ und lautstark für
„Remain“ engagiert, unter diesem Deckmantel aber diskret und doch sehr
energisch eine andere Kampagne geführt. Die inzwischen zugänglichen Daten
der britischen Wahlkommission verraten drei interessante Fakten: Erstens
gingen fast zwei Drittel der Spenden des Finanzsektors an die
„Leave“-Aktivisten, während es bei der britischen Industrie weniger als die
Hälfte war. Zweitens kamen 57 Prozent der Zuwendungen für die
„Leave“-Kampagne aus dem Finanzsektor, beim „Remain“-Lager dagegen nur …
Prozent.
## Unternehmenskontrolle durch Hedgefonds
Und schließlich gab es in der City zwei Gruppen mit unterschiedlichen
Positionen. Die eine repräsentiert die Protagonisten der „ersten
Finanzialisierung“, also den traditionellen Finanzsektor: Banken,
Versicherungen, Finanzberatungsfirmen, dazu institutionelle Anleger
inklusive Pensionskassen. Das Akkumulationsmodell dieses Sektors besteht
darin, private Sparer zu animieren, ihre Einlagen kurzfristig am
Aktienmarkt zu investieren. Bei dieser Art Wertschöpfung streben die
Investoren keine Kontrolle über die Unternehmen an, deren Anteile sie
erwerben. Diese Kontrolle überlassen die „passiven“ Anleger vielmehr dem
Management des Unternehmens.
Die andere Fraktion besteht aus den Protagonisten der „zweiten
Finanzialisierung“ wie Private-Equity-Unternehmen und Hedgefonds. Diese
treiben, anders als die traditionellen Akteure, private Anlagegelder ein,
um sie mittelfristig in nicht börsengehandelte Anteile von Unternehmen zu
investieren, deren Kontrolle sie übernehmen. Ihr Geschäftsmodell ist
insofern „alternativ“, als es relativ unabhängig von der Entwicklung der
Aktienmärkte ist.
Betrachtet man die Finanzierungsquellen der beiden Kampagnen, ergibt sich
ein klares Bild: Das „Remain“-Lager wurde weitgehend von den Protagonisten
der ersten Finanzialisierung subventioniert, die „Leave“-Kampagne dagegen
von denen der zweiten Finanzialisierung (mit etwa 94 Prozent des
Spendenvolumens).
Von kritischen Ökonomen wird die EU oft als institutionalisierter Hort des
Neoliberalismus beschrieben, als Vehikel, um die Völker im Interesse der
Finanzwirtschaft ihrer Souveränität zu berauben. Doch dieser Rahmen, der
dem europäischen Finanzsektor beste Operationsbedingungen bietet, ist den
Protagonisten der zweiten Finanzialisierung längst zu eng geworden. Sie
versprechen sich vom Brexit, dass sie künftig nach Belieben investieren
können, ohne durch die als zu streng empfundene Brüsseler Finanzaufsicht
eingeengt zu werden.
## Ein Singapur an der Themse
Diese Fraktion des Finanzsektors hat es darauf abgesehen, die City in eine
Art Offshore-Plattform zu verwandeln, konstatiert der Geschäftsbanker und
frühere Trader Marc Fiorentino: „Manche Finanzakteure träumen davon, London
in ein globales Singapur zu verwandeln, eine von allen regulatorischen
EU-Auflagen befreite Zone, in der alle aufstrebenden Wirtschafts- und
Finanzmächte ungehindert ihre mehr oder weniger sauberen Geschäfte
verfolgen können. Es wäre ein riesiges Steuerparadies.“ Die britische
Presse hat dafür den Begriff „Singapore-upon-Thames“ geprägt.
Mit dem Amtsantritt von Boris Johnson im Juli 2019 haben es die Vertreter
der zweiten Finanzialisierung in die Downing Street 10 geschafft und
wichtige Regierungsposten erobert. Diese Brexit-Fraktion ist auf eine
libertäre Ideologie eingeschworen und will jegliche staatliche Intervention
einschränken, die über den Schutz des Privateigentums hinausgeht.
Mit der Ablehnung staatlicher Regulierung auf nationaler Ebene geht der
Widerstand gegen jede Art von Institutionalisierung der zwischenstaatlichen
Beziehungen einher. Deren Gestaltung soll im freien Ermessen der Staaten
liegen, die untereinander Handelsabkommen gemäß ihren wirtschaftlichen
Interessen abschließen.
Der Libertarismus propagiert einen radikal deregulierten Kapitalismus als
soziales System, das auf der moralischen, politischen und wirtschaftlichen
Souveränität des Individuums basiert.
## Neoliberalismus mit autoritären Zügen
Nach dem kanadischen Ökonomen und Ideenhistoriker Gilles Dostaler
(1946-2011) gehen die Libertären bei der Einschränkung der Rolle des Staats
weiter als die Neoliberalen: Dem Staat sollen nicht nur das Bildungswesen
und Infrastrukturen wie das Verkehrssystem entzogen sein, sondern sogar
hoheitliche Befugnisse: „Diese anarchistisch-kapitalistische Bewegung sieht
die völlige Abschaffung des Staats und die Privatisierung aller seiner
Funktionen vor, einschließlich Armee, Polizei und Justiz, die für Adam
Smith dem Staat vorbehalten waren.“
Der altehrwürdige Adam Smith hatte das Gemeinwohl noch als Summe der
Einzelinteressen interpretiert. Der Liberalismus soll durch von souveränen
Individuen demokratisch beschlossene Gesetze ergänzt werden. Die
Neoliberalen unter Milton Friedman, Friedrich Hayek und Ludwig von Mises
propagierten, die radikale Verteidigung des Privateigentums und der
Freiheit, sich zu bereichern, führe zur allgemeinen Wohlstandsmehrung und
somit zu sozialem Fortschritt, die sogenannte Trickle-down-Theorie.
Die Anhänger des Libertarismus propagieren dagegen einen ethischen
Freiheitsbegriff, der die Frage nach den Auswirkungen auf das Gemeinwohl
ausblendet. Der absolute Vorrang der Freiheit entspringt nicht der
Überzeugung, dass der Kapitalismus überlegen sei, weil er mehr Wohlstand
schaffen könne als jede andere Produktionsweise. Die Freiheit der
Eigentumsakkumulation findet ihre Begründung nur noch in sich selbst.
## Radikale Thinktanks in Westminster
Zudem nimmt der ökonomische Libertarismus, dem die Protagonisten der
zweiten Finanzialisierung anhängen, auf politischer Ebene autoritäre Züge
an. Da alle Umverteilungsmechanismen zur Erfüllung der Grundbedürfnisse der
Bevölkerung – in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Sicherheit –
abgelehnt werden, gilt die Unterdrückung sozialer Bewegungen und die
Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und Rechte – inklusive der
Meinungsfreiheit – als gebotene Methode, um den sozialen Zusammenhalt zu
sichern.
Da eine systemische Reduzierung der sozialen Ungleichheit und der Verarmung
von Teilen der Bevölkerung als illegitim gilt, bleibt zur Regulierung des
gesellschaftlichen Lebens nur der Einsatz von Gewalt. Die Freiheiten werden
geopfert, um die wichtigste Freiheit zu bewahren: das Recht, Eigentum zu
besitzen und zu akkumulieren.
In den 2010er Jahren wurden diese Ideen vor allem von Thinktanks
verbreitet, die unter dem Sammelbegriff „Tufton Street“ bekannt wurden,
weil die meisten von ihnen ihre Adresse in dieser Straße des Londoner
Stadtteils Westminster haben. Zum Beispiel (in der Tufton Street 55 und 57)
das Adam Smith Institute, die TaxPayers’ Alliance, Leave Means Leave, die
Global Warming Policy Foundation, das Centre for Policy Studies (1974 unter
anderem von Margaret Thatcher gegründet) und das Institute for Economic
Affairs.
Diese Thinktanks werden größtenteils durch die Akteure der zweiten
Finanzialisierung finanziert, aber auch durch eng mit ihnen verbundene
Branchen wie Hoch- und Tiefbau, fossile Energien und die Tabakindustrie.
Dieses Netzwerk beschränkt sich nicht nur auf Großbritannien. Die Tufton
Street ist Teil des transatlantischen Atlas Network mit etwa 400
Organisationen, die sich zu einer politisch kohärenten Galaxie formieren.
## Verbindungen zur Alt-Right-Bewegung
Geeint wird dieses Netzwerk des Libertarismus auch durch die Verbindungen
zur Alt-Right-Bewegung in den USA und zu den Tory-Brexiteers. Diese
Organisationen stehen für ein Ensemble von Ideen, die das politische
Projekt der zweiten Finanzialisierung ausmachen: Libertarismus, Fortsetzung
des Thatcherismus, Euroskeptizismus, Atlantismus, Autoritarismus und
Anzweifeln des menschengemachten Klimawandels.
Die politischen Förderer der zweiten Finanzialisierung sind, um zu
regieren, offenbar nicht mehr auf die Demokratie als Form bürgerlicher
Herrschaft angewiesen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts musste sich das
aufstrebende Bürgertum in der Konkurrenz mit den in manchen Gegenden noch
sehr populären Lehnsherren und Aristokraten eine neue Legitimität
verschaffen, die nicht auf Vererbung gründete.
Damals ging es darum, die durchaus mögliche Wiederherstellung der
Interessenkoalition von Landadel und Bauern zu verhindern, die fast tausend
Jahre vorgeherrscht hatte. Deshalb konnte die bürgerliche Revolution auf
die Neuerfindung des Demokratiegedankens auf Basis der Idee der
Volkssouveränität setzen.
Das ist heute anders: Die Macht der Bourgeoisie wird von keiner anderen
Gesellschaftsschicht oder konkurrierenden Elite bedroht. Könnte es also
sein, dass sie, wenn keine monarchistische oder sozialistische Gefahr mehr
besteht, an der Demokratie nicht mehr interessiert ist?
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Anmerkung der Redaktion: Die Soziologen Marlène Benquet und Théo Bourgeron
haben das Buch „La Finance autoritaire. Vers la fin du néolibéralisme“,
Paris (Raisons d’agir) 2021, verfasst. Dieser Text ist ein Auszug daraus.
12 Jan 2021
## AUTOREN
Marlène Benquet
Théo Bourgeron
## TAGS
Schwerpunkt Brexit
Boris Johnson
Hedgefonds
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