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# taz.de -- „Nichts daran war wild“
> An einer Regionalgeschichte des Nationalsozialismus arbeitet Jörg
> Wollenberg auch mit über 80 Jahren noch. Besonders interessieren den
> Bremer die frühen Konzentrationslager
Bild: Eingesperrt im Zentrum: Ein ehemaliges Schuhgeschäft diente 1933/34 als …
Von Sebastian Krüger
Seit Jahrzehnten arbeitet er daran, einen lange vernachlässigten Aspekt der
nationalsozialistischen Verbrechen stärker ins allgemeine Bewusstsein zu
holen: die frühen Konzentrationslager. Ende 2020hat Jörg Wollenberg ein
weiteres Buch zu diesen Lagern veröffentlicht, die es überall im Deutschen
Reich gab – auch in Bremen.
An der dortigen Uni war Wollenberg, inzwischen 83 Jahre alt, von 1978 bis
2002 Professor für politische Weiterbildung. Er gehört zudem zu den
Gründern der NS-[1][Gedenkstätte im ostholsteinischen Ahrensbök]. Davor war
er Direktor der Volkshochschulen in Bielefeld und Nürnberg. Sein
akademisches Fachgebiet sind die KZ, die in den ersten Monaten des
Nationalsozialismus entstanden: Bereits wenige Monate nach Hitlers
Ernennung zum Reichskanzler gab es davon mehr als 80 Lager mit 30.000
Insassen.
So eröffnete Johann Heinrich Böhmcker, SA-Kommandeur und
Regierungspräsident des damaligen Landesteils Lübeck, Anfang März 1933 das
KZ Eutin. Neben NSDAP-Gegnern aus der Arbeiterbewegung wurden dort
vereinzelt auch missliebige rechtsnationale Politiker eingesperrt,
misshandelt und als Zwangsarbeiter im Straßenbau eingesetzt. Aus dem KZ
Eutin gingen weitere Lager hervor, darunter eines in Wollenbergs Geburtsort
Ahrensbök. Böhmcker wurde später Bremer Bürgermeister.
Vorrangig Kommunisten wurden ab März 1933 im [2][KZ Mißler in
Bremen-Findorff] festgehalten – unter dem Deckmantel der „Schutzhaft“;
darunter der Musiklehrer und Widerstandskämpfer Hermann Böse. Nach wenigen
Monaten kamen diese Gefangenen ins KZ Ochtumsand, einem Schleppkahn auf dem
Weser-Nebenfluss Ochtum. Ein Foto der Häftlinge an Bord dieses schwimmenden
Gefangenenlagers schaffte es kurz darauf auf die Titelseite der Wiener
Wochenzeitung Der Kuckuck: Schon zu Beginn des NS-Regimes wussten viele
Menschen in Deutschland und außerhalb, welche Verbrechen sich hier
abspielten.
Die frühen Lager sind auch als „wilde KZ“ bekannt – ein Begriff, den
Wollenberg entschieden ablehnt. „Nichts daran war wild“, sagt er, „auch in
den frühen Lagern war jedes Detail geplant und organisiert.“ Unterschiede
gab es aber im Umfang der Überwachung. In Ahrensbök etwa gab es keine
Kapos, keine Lagerältesten, keine Funktionshäftlinge, die gezwungen wurden,
auf ihre Mitgefangenen aufzupassen. Was es gab, waren nur SA-Wachmänner,
und davon meist nicht viele.
Wollenberg zufolge kam es da schon mal vor, dass ein Gefangener heimlich
floh, um ein paar Stunden mit seiner Familie zu verbringen. Kehrte er
abends zurück, ohne dass sein Fehlen bemerkt wurde, war alles gut. Wurde er
erwischt, erwartete ihn schwere körperliche Misshandlung – aber es sei
selten aufgefallen. „In den späteren Lagern war das anders“, sagt
Wollenberg, „da ist fast niemandem die Flucht gelungen.“
Eines war gleich: die Zwangsarbeit. Ihre Ursprünge lagen im Freiwilligen
Arbeitsdienst (FAD), einer Beschäftigungsmaßnahme der Weimarer Republik,
eingeführt 1931 angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nach der
Wirtschaftskrise. Später wurde daraus der Reichsarbeitsdienst (RAD) – das
Wort „freiwillig“ fehlte mit gutem Grund.
Auch die Schutzhaft etwa war keine Erfindung der Nationalsozialisten,
sondern bereits ein Instrument der Weimarer Justiz gewesen. Und auch das
Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 baute auf Gesetzen aus den
1920er-Jahren auf. Wollenberg meidet den – freilich von den Nazis selbst in
Umlauf gebrachten – Begriff „Machtergreifung“ und spricht von der
Machterschleichung. Es seien existierende Gesetze genutzt worden, um die
Demokratie von innen heraus zu zerstören. Ein Gedanke, der ihn über die
Jahre nicht losgelassen hat.
Als er sich dem Thema zu widmen begann, betrat Wollenberg
geschichtswissenschaftlich Neuland, jedenfalls in Deutschland: Seine
Forschungen zählen zu den ersten hierzulande, die eine Regionalgeschichte
des Faschismus schrieben. Nordamerikanische Kollegen waren da weiter, sein
enger Freund Lawrence D. Stokes etwa, ein Kanadier, mit Arbeiten über
Eutin.
1983 beteiligte Wollenberg sich mit Studierenden an einer Ausstellung zum
50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machterschleichung. Eigentlich
hätten sie ihren Beitrag im Bremer Rathaus präsentieren sollen, mussten
sich stattdessen aber mit dem Schlachthof zufrieden geben. Einige beliebte
Persönlichkeiten der Stadt kamen nicht gut weg. „Da haben wir zum ersten
Mal Pfeffersäcke wie Ludwig Roselius vorgeführt“, den Gründer der Bremer
Firma Kaffee Hag, erzählt Wollenberg sichtlich erfreut.
Dass seine Arbeit nicht überall gut ankam, lag wohl auch am Material: „Oral
History war damals en vogue“, sagt er. Aufzeichnungen von Zeitzeugen waren
ein beliebtes Mittel, so auch bei den ehemaligen Häftlingen des KZ Mißler.
Das Problem daran: Viele der in den frühen Lagern Gefangenen waren
Kommunisten – sie ausführlich zu Wort kommen zu lassen, passte nicht ins
politische Klima. Auch war es mitunter schwierig, diese Zeitzeugen
überhaupt zum Sprechen zu bewegen: Die Häftlinge hatten unterschreiben
müssen, dass sie niemals über ihre Haft sprechen würden. Bei vielen saß das
nach all der Gewalt offenbar tief, und sie hielten sich auch noch daran,
als das „Tausendjährige Reich“ längst bezwungen war.
Wollenberg hat viel publiziert in seinem Leben: Bücher über die Bremer
Arbeiterbewegung, eines über die Kommunistin Käthe Popall, die den Krieg in
verschiedenen Konzentrationslagern überlebte und später Bremens erste
Senatorin wurde. Sein letztes großes Projekt als Hochschullehrer war die
Forschung zum KZ Ahrensbök, die er bis heute fortführt. 2000 und 2001
erschienen dazu die ersten Bände, 2016 und 2017 folgten zwei weitere. Kurz
vor Weihnachten sind im Berliner Trafo-Verlag seine beiden neuesten Bücher
erschienen: ein kritischer Rückblick auf 100 Jahre Volkshochschule und ein
weiteres Buch über Ahrensbök.
Nach diesen Veröffentlichungen möchte Wollenberg das Kapitel abschließen
und zur Abwechslung mal einen Roman schreiben. Ohne Historie wird aber auch
seine Belletristik nicht auskommen: Er möchte über Kardinal Richelieu
schreiben und sich so der Geschichte der europäischen Friedensbewegung
annähern. Wollenberg lächelt. „Ich werde eine männliche Bertha von
Suttner.“
Jörg Wollenberg: „Eine Vergangenheit, die nicht vergeht … Von Holstein üb…
Nürnberg und Bremen nach Auschwitz und zurück zur Gedenkstätte Ahrensbök“,
Trafo-Verlag, 226 S., 22,80 Euro
„Mehr Demokratie mit Kultur und Bildung wagen Ein kritischer Blick auf 100
Jahre Volkshochschulen“, Trafo-Verlag, 226 S., 19,80 Euro
8 Jan 2021
## LINKS
[1] http://www.gedenkstaetteahrensboek.de/index.php
[2] https://www.youtube.com/watch?v=0AKoEZ0av1o
## AUTOREN
Sebastian Krüger
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