# taz.de -- Annabelle Hirsch Air de Paris: Die ekelerregenden Geheimnisse der E… | |
Vielleicht wird das jetzt jedes Jahr so: Während die Politikwelt am 7. | |
Januar auf der rechten Seite der Seine der Charlie-Hebdo-Anschläge gedenkt, | |
lässt die Verlagswelt just am gleichen Tag auf der anderen Seite eine Bombe | |
platzen. Eine sprichwörtliche natürlich, aber eine, die die Pariser | |
Gesellschaft mindestens ebenso erschüttert und die so oft idealisierte | |
Kulturelite von Saint-Germain-des-Prés als ziemlich widerwärtigen und | |
feigen Haufen entlarvt, der seinen moralischen Kompass irgendwo auf dem Weg | |
vom Revoluzzertum ins Establishment verloren hat. | |
Vielleicht erinnern Sie sich: Im vergangenen Jahr war da Vanessa Springora, | |
die in ihrem mittlerweile auf Deutsch erschienenen Buch „Die Einwilligung“ | |
von ihrer Beziehung zum Schriftsteller Gabriel Matzneff erzählte. Es ging | |
um Machtmissbrauch (damals war der Herr halbwegs bekannt) und Pädophilie | |
(sie war vierzehn, er über fünfzig), vor allem aber um ein Milieu, dass | |
nicht nur zugesehen hatte, sondern auch immer wieder nervengekitzelt | |
klatschte, wenn der Mann sich in einem Buch mal wieder über seine | |
pädophilen Eskapaden ausließ. Streng genommen enthüllte die Geschichte | |
nichts, da ja alles in den Büchern stand, nur führte sie erstmals aus, was | |
die jungen Mädchen dabei empfanden und wie es überhaupt dazu kam. | |
Springora dominierte damit über Wochen sämtliche Diskussionen über die | |
Literaturneuerscheinungen des Januars. Man fragte sich, wie es sein konnte, | |
dass niemand gesagt hatte, was mit den Verlagen eigentlich schieflief, dass | |
sie pädophile Inhalte so lange gedruckt hatten, ob am Ende die Ideologie | |
des Mai 68 an all dem schuld sei. | |
Jetzt ist es ähnlich. Wieder ist ein Buch erschienen, dass alle anderen in | |
den Schatten stellt. Wieder ist es eines, dass ein Geheimnis lüftet, das | |
offenbar schon lange keines mehr ist und weniger wegen seines literarischen | |
Werts als vielmehr wegen des leicht voyeuristischen Blicks in die Abgründe | |
einer gewissen Gesellschaft begeistert. | |
Zumal die Protagonisten diesmal wirklich bekannt und einflussreich sind: In | |
„La familia grande“ berichtet die heute fünfundvierzigjährige Juristin | |
Camille Kouchner, Tochter des ehemaligen Außenministers und | |
Ärzte-ohne-Grenzen-Mitbegründers Bernard Kouchner und der Feministin | |
Évelyne Pisier, wie ihr Stiefvater, der ebenfalls bekannte Politologe | |
Olivier Duhamel, ihren Stiefbruder fast drei Jahre lang sexuell missbraucht | |
hat. | |
Am Anfang klingt alles schön: Der liebende Stiefvater, der den abwesenden | |
Vater ersetzt, die überfeministische Mutter, das Ferienhaus mit den vielen | |
Freunden, das freie Leben, die Abkehr von Konventionen. Dann wird es | |
ziemlich schnell düster. Am Anfang weiß nur Camille von den Übergriffen | |
(von denen sie auch gar nicht weiß, ob sie schlimm sind: Wenn der geliebte | |
Stiefvater es macht, kann es so falsch sein?), später erfahren es andere | |
und zuletzt die Mutter. | |
Man glaubt es beim Lesen kaum, aber offenbar ist ihre Reaktion im Kontext | |
des Inzests traurig „normal“: Sie schlägt sich auf die Seite ihres Mannes. | |
Ebenso wie die meisten Freunde, diese familia grande. Sie schweigen, sie | |
schauen weg, man will es sich ja nicht mit den Mächtigen verscherzen, man | |
mischt sich nicht in „private Angelegenheiten“ ein, das gehört sich nicht, | |
vielleicht ist man sogar, so glaubt Kouchner, ein bisschen stolz, | |
eingeweiht zu sein. Das heißt, dass man dazugehört. | |
Wie schon bei Springora interessiert am Ende weniger das Buch an sich (auch | |
wenn es natürlich alle Verkaufslisten sprengt) als die Diskussionen, die es | |
anregt. Über die unterschätzte Häufigkeit des Inzests (10 Prozent der | |
Franzosen geben, an Inzestopfer gewesen zu sein), die Mitverantwortung der | |
Schweigenden, die Frage, ob die Verjährung für diese Art von Verbrechen | |
aufgehoben werden soll. Duhamel selbst hat sich zu Beginn der vergangenen | |
Woche von all seinen Funktionen verabschiedet, für seine Tat bestraft | |
werden kann er nicht mehr. Zumindest nicht von der Justiz. Vor der Pariser | |
Verlagsbranche allerdings dürften Verbrecher sich von nun an im Januar | |
fürchten. | |
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Paris und Rom. | |
12 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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