# taz.de -- Das schreiende Schweigen der EU | |
> Der Skandal um Julian Assange wird im Januar weitergehen. Falls Corona es | |
> zulässt, holt ihn die ach so hochgelobte britische Justiz wieder aus | |
> Belmarsh, dem Hochsicherheitsgefängnis für Schwerstverbrecher. Und | |
> entscheidet über seine Auslieferung in die USA. Dort drohen ihm bis zu | |
> 175 Jahre Haft. | |
Bild: „Free Assange“ fordert man auch in Stuttgart. | |
Von Gastautorin Herta Däubler-Gmelin↓ | |
Assanges „Verbrechen“ in den USA? Er hat bekanntlich Chelsea Manning, der | |
mutigen US-Soldatin und Whistleblowerin geholfen, Verbrechen des | |
US-Militärs in Afghanistan und Irak an die Öffentlichkeit zu bringen. | |
Julian Assange ist der Gründer von „Wikileaks“, der Plattform, die | |
Dokumente über Skandale und Verbrechen veröffentlicht, die von Regierungen, | |
Militärs und Unternehmen gerne verschwiegen und deshalb zur Geheimsache | |
erklärt werden. | |
Und sein „Verbrechen“ in Großbritannien? Julian Assange ist nach seiner | |
ersten Inhaftierung von britischen Gerichten 2012 gegen Kaution vorläufig | |
auf freien Fuß gesetzt worden und hat sich dieser großartigen | |
Gerichtsbarkeit, „shame on him“, durch Flucht in die Botschaft Ecuadors | |
entzogen. Damals ging es um seine Auslieferung an Schweden, das ihn wegen | |
möglicher Verstöße gegen das Sexualstrafrecht haben wollte. Assange | |
befürchtete keineswegs grundlos, Schweden wolle ihn in Wirklichkeit an die | |
USA „durchliefern“. Schweden hat mittlerweile die Vorwürfe und den | |
Auslieferungsantrag längt zurückgezogen. | |
Großbritannien hat Assange wegen der Verletzung der Kautionsbestimmungen | |
2019 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Das hat er abgesessen – in dem | |
heute mit Covid 19 verseuchten Hochsicherheitsgefängnis für | |
Schwerstverbrecher Belmarsh. In Einzelhaft. Seine Gesundheit ist zerrüttet. | |
Besuch und Kontakte werden kaum genehmigt. Ohne Verurteilung wird er weiter | |
als gefährlicher Schwerstverbrecher festgehalten und behandelt. Soviel zur | |
hochgelobten britischen Justiz. | |
Das alles verstößt gegen grundlegende Rechtsstaatsgebote. Und gegen viele | |
weitere Regeln des britischen, europäischen und internationalen Rechts, wie | |
Nils Melzer, der UN-Beauftragte für Menschenrechte, längst rügte. Die | |
Regierung und Justiz Großbritanniens stört das ganz offensichtlich nicht. | |
Die der USA schon gar nicht. Und auch Europa schweigt in elender | |
Jämmerlichkeit, genauso wie die deutsche Bundesregierung. Auch das ist ein | |
Skandal. Hier wird ein Mensch zugrunde gerichtet. Deshalb unterstütze ich | |
die Forderung, Julian Assange sofort frei zu lassen. | |
## Skandalöser Umgang mit Assange | |
Das alles tritt auch unsere „westlichen Werte“ der Rechtsstaatlichkeit und | |
der Menschenwürde mit Füßen. Wenn es um China geht, um Iran, um Russland, | |
um die Türkei oder um die anderen Staaten, deren Regierungen wir westliche | |
Rechtsstaaten nicht vertrauen und deren Justiz wir mit Grund Unabhängigkeit | |
und Rechtsstaatlichkeit absprechen, beklagen wir das mit Recht, | |
gelegentlich sogar lautstark. | |
Warum nicht gegenüber Großbritannien? Warum das geradezu schreiende | |
Schweigen der EU und ihrer Mitgliedstaaten beim skandalösen Umgang mit | |
Julian Assange? | |
Ist es nur, wie sicherlich auch bei Edward Snowden, aus Feigheit gegenüber | |
dem Freund USA? Trotz Trump? Kein EU-Land, auch nicht Deutschland, hat | |
Snowden Asyl gewährt! Dieser Skandal wird zwar heute auch bei uns kaum mehr | |
öffentlich kritisiert, aber er bleibt – und gehört genau in diese | |
Kategorie. | |
Bei Julian Assange geht’s noch um mehr: Offensichtlich soll hier an dem | |
Gründer von Wikileaks ein Exempel statuiert werden. Alle, die solche | |
Dokumente finden und an Menschen weitergeben, die sie veröffentlichen | |
können, sollen abgeschreckt werden. | |
Es geht also um Whistleblower, JournalistInnen, internationale | |
Rechercheverbünde, Verlage und Plattformen wie Wikileaks. Wie wichtig die | |
sind, wissen wir längst. Ohne sie gäbe es weder die Chance, wenigstens die | |
schlimmsten SteuerbetrügerInnen zu erwischen, internationale Verbrechen von | |
Mächtigen in Staat, Militär und Wirtschaft aufzuklären, Skandale wenigstens | |
gelegentlich zu bekämpfen oder Schlupflöcher aufzudecken. Jeden Tag hören | |
wir von Fehlentscheidungen, die ohne Whistleblower und Veröffentlichung | |
nicht korrigiert werden könnten. Weder Verantwortliche in Regierungen noch | |
in Unternehmen könnten ohne Whistleblower, Recherchen und | |
Veröffentlichungen zur Rechenschaft gezogen werden. Alle brauchen | |
Whistleblower, auch um die dringend erforderliche „Kultur der | |
Fehlerkorrektur“ durchzusetzen. | |
## Whistleblower sind mutige Menschen | |
Das hat die Europäische Union längst erkannt als sie 2019 die EU-Richtlinie | |
über Whistleblower in Kraft setzte. Dass Whistleblower Anerkennung und | |
Schutz verdienen, muss von allen EU-Mitgliedstaaten bis 2021 vollständig | |
umgesetzt werden. Die zuständige EU-Kommissarin für „Werte und | |
Transparenz“, Věra Jourová, hat das sehr klar gemacht, als sie sagte: | |
„Whistleblower sind in unseren Gesellschaften äußerst wichtig. Es sind | |
mutige Menschen, die dazu bereit sind, illegale Aktivitäten ans Licht zu | |
bringen, um die Öffentlichkeit vor Fehlverhalten zu schützen – oft unter | |
großer Gefahr für ihre Karriere und ihren Lebensunterhalt.“ | |
Warum gilt das nicht für Assange? Weil Wikileaks die Verbrechen von US- | |
Militärs in Afghanistan und Irak an die Öffentlichkeit gebracht hat? Weil | |
die Briten am Irak-Krieg beteiligt waren? | |
Chelsea Manning wurde in den USA verurteilt. Wäre sie auch in England | |
verurteilt worden? Bei Anwendung der EU-Richtlinie hoffentlich nicht. | |
Sicher ist das allerdings keineswegs. Denn es geht ja noch um die zweite | |
Stufe, um die Veröffentlichung der Verbrechen und Skandale: Ohne Wikileaks | |
wäre es wohl kaum zum öffentlichen Aufschrei über Verbrechen wie die von | |
Abu Ghraib gekommen – und wohl auch nicht zu den wenigen | |
Korrekturversuchen. | |
Viele Mächtige denken wohl, dass Whistleblower ihr Wissen gefälligst ihnen, | |
den Mächtigen und Zuständigen in Staat und Wirtschaft, zugänglich machen | |
sollen, die dann handeln können oder auch nicht, je nachdem, was sie für | |
richtig halten. | |
Für rechtstaatliche Demokratien, „westlichen Werte“ reicht das nicht aus. | |
Auch das deutsche Whistleblower-Gesetz ist da zu vage, wenn es | |
Veröffentlichungen nur dann für straflos erklärt, wenn die Whistleblower | |
oder JournalistInnen darlegen können – vor Gericht im Zweifel, vor das sie | |
dann von den Mächtigen gestellt werden –, dass sie nicht handeln, um den | |
für den Skandal Verantwortlichen zu schaden. | |
## Absolute Macht korrumpiert absolut | |
Das Gericht muss also ihr „anständiges“ Motiv prüfen und anerkennen! Und | |
bestätigen, dass Veröffentlichung und Verhalten „objektiv geeignet“ sein | |
müssen, um „das öffentliche Interesse“ zu schützen. Das ist zu vage, weil | |
es die grundlegend wichtige Rolle der Öffentlichkeit und der | |
Zivilgesellschaft in unserer rechtsstaatlichen Demokratie verkennt. Ohne | |
sie geht es nicht. Wir alle sollten mittlerweile gelernt haben, dass der | |
Satz des britischen (!) Lords Acton „Macht korrumpiert, absolute Macht | |
korrumpiert absolut“ nicht nur für Diktaturen und autoritäre Systeme gilt. | |
Deshalb begrenzt unsere Verfassung Macht. Und schreibt ein System von | |
Kontrollen vor. Und die wichtige Rolle der Öffentlichkeit. Deshalb sind | |
JournalistInnen und ihre Verlage beziehungsweise Plattformen lebenswichtig. | |
Richtig ist allerdings auch, dass auch JournalistInnen, Verlage und | |
Plattformen, auch die der „Social Media“, Verantwortungsbewusstsein und | |
Professionalität brauchen. Auch sie haben Macht. Auch hier werden Fehler, | |
Feigheiten gern verschwiegen. Auch hier braucht es – und gibt es | |
hoffentlich in steigendem Umfang – Whistleblower und Korrekturen. | |
An Julian Assange, dem Gründer von Wikileaks, soll ganz offensichtlich ein | |
Exempel statuiert werden, das ihn zugrunde richtet, das andere abschrecken | |
soll: Whistleblower, RecherchejournalistInnen, Verlage und Plattformen. | |
Darum geht es. | |
Deshalb lautet die Forderung, Julian Assange unverzüglich freizulassen. | |
Und Whistleblower zu schützen. Weil sie, wie die EU-Kommissarin für Werte | |
und Transparenz so schön formulierte, für unsere Gesellschaft unverzichtbar | |
wichtig sind. | |
Herta Däubler-Gmelin, Jahrgang 1943, war Bundesministerin der Justiz und | |
stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. Die Tübinger Juristin | |
unterstützt die Kampagne „Assange helfen“, die von Günter Wallraff Anfang | |
des Jahres initiiert wurde und von der Bundesregierung Asyl für den | |
Whistleblower verlangt. | |
24 Dec 2020 | |
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