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# taz.de -- FlanierenddieStadtaneignen
> Ganz Berlin ist in der Pandemie am Spazieren. Flanieren ist en vogue.
> Historisch betrachtet ist die Rolle des Flaneuers männlich besetzt. Doch
> das war gestern. Heute braucht es eine neue Erzählung. Die liefert das
> Autorinnenkollektiv des Buchs „Flexen. Flâneusen* schreiben Städte“
Bild: Geschichtsträchtige Ecke: Flanieren auf der Museumsinsel in Mitte
Vom kollektiv flexen – Lea Sauer, Mia Göhring, Özlem Özgül Dündar
Überall sehen wir sie in diesen Tagen: Spaziergänger*innen, paarweise, in
Gruppen oder allein, in den Parks, in den Straßen, auf öffentlichen
Plätzen. Kurz: Flanieren ist en vogue. Dabei ist das Flanieren ja nichts
Neues, solange es Städte gibt, gibt es auch den Flaneur, der seit jeher in
der Literatur verewigt wurde.
Die alten Vorstellungen vom Dandy-Flaneur mit Gehstock und Frack sind
jedoch längst überholt. Wenn wir uns umschauen, sind die Flanierenden von
heute der Papi mit dem Kinderwagen, die junge Frau im Rollstuhl oder die
Oma mit dem Rollator. Sie existierten bislang praktisch nicht in der
Geschichte des Flanierens. Es bedarf einer neuen Erzählung von Städten, die
der heutigen Wirklichkeit gerecht wird. Das Flanieren ist eine subversive
Erfahrung, die Stadt neu kennenzulernen, ihre einzelnen Facetten neu zu
durchdringen.
Beim Flanieren sind wir mit uns selbst. Wir suchen die Ruhe und den Abstand
zu anderen. Wir können ganz bei uns sein, unsere Wahrnehmung verändert
sich. Wir gehen nicht mehr nur von A nach B, sondern gehen um des Gehens
willen. Wir sind allein mit unserem Körper auf der Straße und fühlen unsere
Bewegung. Flanieren gibt Zeit, dass wir uns auf unsere Atmung
konzentrieren, dass wir unser Gesicht spüren, die Kälte des Dezembers auf
der Haut, an den Händen, den Beinen und Füßen. Wir sind eins mit unserem
Körper, und wir sind eins mit unseren Gedanken, während unsere Füße den
Asphalt berühren.
Doch wer kann sich ungehindert in der Stadt bewegen, und für wen tun sich
Hindernisse auf, sichtbare oder unsichtbare Grenzen? Es ist nicht
selbstverständlich draußen, mit einem Latte macchiato in der Hand, einfach
herumwandeln zu können. Weil nicht jede*r die zeitlichen oder finanziellen
Ressourcen hat. Weil sich nicht jede*r ungestört zu jeder Tages- und
Nachtzeit bewegen kann. Weil sich der öffentliche Raum immer noch an einer
Norm orientiert, in der Menschen mit Behinderung, Alte oder, na ja, auch
einfach Schwangere keinen Platz finden.
Es ist kein Geheimnis, dass Straßen für einige sicherer sind als für
andere. Viele von uns kennen es: hinterherpfeifen, unerwünschte Kommentare,
die einem im Vorbeigehen zugeraunt oder laut zugerufen werden, Gesten, die
einen provozieren sollen. Catcalling nennt man diese Form der verbalen und
meist sexualisierten Gewalt, die sich vor allem gegen Frauen, Homosexuelle,
People of Color, trans Personen und Menschen mit Behinderung richtet.
Das Flanieren ist eben doch ein Privileg und bleibt es, solange die
Bedürfnisse dieser Menschen im Stadtraum nicht mitbedacht werden.
Das führt zu der Frage: Wie wurden und werden Städte gebaut? Und von wem?
Es fängt schon bei den Bordsteinen an: für Menschen in Rollstühlen, für
alte Menschen mit Rollatoren, für Menschen mit Kinderwagen sind sie oft
schlicht zu hoch. Absurd wird es bei öffentlichen Toiletten, wie es sich
beispielsweise auch in jüngster Zeit in der Diskussion über die neuen
öffentlichen Toiletten am Leopoldplatz gezeigt hat, die nicht nur durch
fehlenden Sichtschutz für eine tolle Aussicht sorgten, sondern auch
insgesamt wieder einmal zum Symbol für sexistische Stadtplanung wurden.
Denn die Toiletten bestanden lediglich aus zwei Pissoirs. Denn wen
interessiert’s schon, wenn Menschen ohne Penis aufs Klo müssen.
Selbst Windkorridore zwischen Gebäuden werden stadtplanerisch in Größe und
Gewicht als Norm gedacht, wie Leslie Kern in „Feminist City: Wie Frauen die
Stadt erleben“ (Unrast Verlag 2020) beschreibt. Wer nicht dieser „Norm“
entspricht, also einfach klein, dick oder dünn ist, wird eben umgepustet.
Die Stadt dokumentiert Geschichte. An ihrer Architektur zeigt sich
deutlich, wie sich verschiedene Zeiten miteinander vereinen, wie die
Geschichte sich in der Stadt manifestiert. Aber auf den zweiten Blick sieht
man noch viel mehr. Für manche sind die Wege voll mit Stolpersteinen,
Hürden, die Erinnerungen öffnen, den Alltag begleiten, mit Gedenksteinen,
die die Wege bedecken, auf denen man seinen Supermarkteinkauf erledigt.
Selbst die Steine, aus denen die Fußgängerwege gemacht sind, sind Spuren
der Geschichte, einer bestimmten Stadtplanung. Die Fassaden der Häuser
zeigen, wer hier lebt, ob arm oder reich, aber auch wer hier einst gelebt
hat. Ihre Bewohner*innen sehen die Stadt mit unterschiedlichen Augen.
Um diese Vielschichtigkeit abzubilden, bedarf es einer neuen Betrachtung
von Städten. Oder wie Kulturwissenschaftlerin Lauren Elkin es nennt:
„Queering the City“ – die Stadt muss unterlaufen werden. Aktionen solcher
Art gibt es viele. Wie zum Beispiel die Umbenennung von Straßennamen mit
Bezug zur Kolonialzeit, wie es im Berliner Wedding beispielsweise für die
Petersallee und den Nachtigalplatz seit Jahren eingefordert wird. Oder auch
der Umsturz von Statuen, wie der Colston-Statue im britischen Bristol, die
zu Recht im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste buchstäblich gecancelt
wurde.
Das Umstürzen von Statuen ist erst der Anfang. Auch wenn es in der jetzigen
Zeit erschwert ist, sich kollektiv zu organisieren und auf die Straßen zu
gehen, gibt es Möglichkeiten der subversiven Unterwanderung der Stadt: das
Flexen. Flexen bedeutet die aktive Aneignung der Stadt, es bedeutet, sich
den Stadtraum zu eigen zu machen, gegen die unsichtbaren Grenzen und
vorgeschriebenen Traditionslinien anzulaufen.
Wer nicht allein flanieren und flexen will, kann allein im Kollektiv flexen
– mit einem Audiowalk. In einer Zeit, in der die meisten Kulturangebote
geschlossen sind, bietet er noch eine Möglichkeit der
literarisch-künstlerischen Betrachtung der Stadt. Der Audiowalk fügt dem
Flanieren als Kunstform eine weitere Facette hinzu (siehe auch Seiten 44,
45). Man läuft allein, aber die Stimme im Ohr verbindet die einzelnen
Flanierenden zu einem Erlebniskollektiv.
Die heutige Zeit macht noch einmal mehr deutlich, dass Städte kollektiv
gedacht werden müssen, wenn sie für alle ein angenehmes Zuhause bieten
sollen. Statt uns drinnen einzuigeln, sollten wir aktiv werden, den
Stadtraum einnehmen, ihn umdeuten, für uns und andere neu denken. Das
heißt, wir sollten flexen, uns in die Stadt flexen, uns die Stadt
zurechtflexen. Denn der Baudelair’sche Flaneur liegt schon lange in der
Schublade und hüllt sich ein unter dem Staub der Jahrhunderte, und dort
kann er auch bis in alle Ewigkeit gern liegen bleiben und es sich in den
Ecken der Schublade gemütlich machen. Also, Schuhe an und raus!
Das Buch [1][“FLEXEN. Flâneusen* schreiben Städte“] (272 Seiten; 18 Euro)
ist im Verbrecher Verlag erschienen
19 Dec 2020
## LINKS
[1] https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/1006
## AUTOREN
Lea Sauer
Mia Göhring
Özlem Özgül Dündar
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