# taz.de -- berlin viral: Tropenkrankheiten und Glühwein | |
All meine Reisen in afrikanische Länder sind mit belehrenden Schrecken von | |
Freunden und Bekannten begleitet worden. Ungefragt. Viele Europäer – ich | |
nenne keine Namen – erliegen immer noch ihrer Unwissenheit und nehmen an, | |
dass man wie automatisch umkommen werde, wenn man dort einige Zeit | |
verbringt. | |
Irgendwen können sie immer aus dem Hut zaubern, den sie um 24 Ecken kennen | |
und der oder die dort bei einem Busunglück, durch eine Tropenkrankheit, | |
einem Überfall oder aufgrund ungewaschenen Essens durch entsetzlichen | |
Durchfall ums Leben kam. Natürlich, wenn man sonst nichts hört außer Krise | |
und Krankheit und „Sollen wir da eingreifen?“, kann sich ein komplexeres | |
Bild dieser Länder nicht recht entfalten. | |
Ich bin immer wieder überrascht, wie viele afrikaspezifische Todesarten und | |
neue Krankheiten den Leuten einfallen. Wahrscheinlich, weil sie gerade eine | |
alarmierende Arte-Dokumentation darüber gesehen haben, die den Blick in | |
dramatische Beklopptheit verengt. Meine Antwort war bisher immer: „Da leben | |
die ganze Zeit ganz viele Leute ganz normal, ohne permanent an Krankheiten | |
zu siechen, erschossen zu werden und wegen schlechter Straßenverhältnisse | |
zu verunfallen. Ich glaube, zwei Wochen schaffe ich das auch.“ | |
Nun erlebe ich eine bemerkenswerte Umkehrung. Bei Telefonaten mit Leuten | |
irgendwo im grünen Kreise Hessens höre ich: „Lebst du noch? Da in Berlin? | |
Wie kann man da noch leben? Traust du dich noch aus’m Haus?“ | |
Ich schaue verwundert in den Hörer (ich habe noch Festnetz) und sage „Ähm | |
ja.“ | |
„Ich lebe da. Jeden Tag. Ich überlebe dort auch. Alltag.“ Meine Nähe zu | |
einem langsamen qualvollen Tod beschränkte sich bisher auf eine Situation, | |
als ich nach dem letzten Klopapier im Supermarkt griff und resignierend an | |
der Kasse feststellen musste, das dieses mit Kamilleparfum durchseucht war. | |
Meine Mutter hat derweil eine neue Todesgefahr entdeckt: „Die | |
Glühweinstände!“ Ich bin überrascht, meine Mama ist eigentlich die Letzte, | |
die einem Glühweinstand abgeneigt wäre. Vor allem, da mehr | |
Weihnachtsmarktgefühl dieses Jahr nicht drin war, rührt es mich, wenn die | |
Leute es sich in widrigen Umständen gemütlich und nett machen wollen. Auch | |
meine Mama hat dafür volles Verständnis: „Aber überall Glühweinstände und | |
die Leute stehen da in großen Gruppen davor! Stehen Schlange, viel zu nah! | |
Und dann trinken sie das im Umkreis von nur 20 Metern vor dem Stand, werden | |
immer lustiger und fallen sich in die Arme! Das hab ich auf rbb gesehen.“ | |
Meine Mama schaut immer die rbb-Abendschau, um zu sehen, wie es mir geht. | |
Sie hält mich dann auf dem Laufenden, was so los ist in meiner Stadt, was | |
ich sehr schätze. Ich mache den Test und spaziere die Oranienstraße und | |
Wiener Straße entlang. Ich zähle sechs Stände, die Rumpunsch und Glühwein | |
verkaufen. Meistens vor Kneipen stehen die Kneipenbesitzer mit | |
selbstgemalten Schildern, wie Kinder, die am Straßenrand selbstgemachte | |
Limo verkaufen, und ein, zwei Leute stehen lustig trinkend dabei. | |
Ich vergewissere meiner Mama, dass die Berliner sich benehmen können. „Du | |
weißt doch, wie das Fernsehen ist. Die machen doch alles, um ihre Bilder in | |
die Nachrichten zu bekommen. Helfen nach, wie Werner Herzog bei seinen | |
Dokumentationen, um die Wahrhaftigkeit und den Allmächtigen sichtbar zu | |
machen. Wahrscheinlich hauen die ein paar Passanten an und geben denen | |
einen Glühwein aus, damit sie dicht gedrängt vor so einem Stand posen, so | |
lange, bis die Szene im Kasten ist.“ | |
Aber das ist ja nun auch vorbei. Nun nehmen wir uns den Glühwein von zu | |
Hause mit und stehen an der Theke am Brückengeländer am Landwehrkanal, in | |
wärmenden Trauben. Sarah Diehl | |
19 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Sarah Diehl | |
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