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# taz.de -- Entgrenzter guter Geschmack
> Immer gibt es hier was zu entdecken, diesmal etwa die Noise-Rockerin
> Safi: Auch die 14. Ausgabe der feministischen Veranstaltungsreihe „Ich
> brauche eine Genie“ überzeugt mit einer genialen Mischung aus Kunst und
> Müll
Bild: Glückliches Zusammenspiel: Safi (links) hat für ihren Auftritt bei „I…
Von Zora Schiffer
Am Donnerstagabend fand die 14. Ausgabe des feministisch-dadaistischen
Events „[1][Ich brauche eine Genie“] als Livestream auf Youtube statt. Alle
viertel Jahre bereiten [2][Sandra und Kerstin Grether] damit eine
fulminante Bühne für weibliche Schöpfungsakte aus Musik, Dichtung und
Performance. Der besondere Reiz an dieser in den pandemischen Zeiten von
der Bühne halt gerade ins Netz verschobenen Veranstaltungsreihe ist neben
dem wohltuenden Empowerment das eigentümliche Talent der Kuratorinnen,
Erwartungen an Kunst und guten Geschmack sowohl zu über- als auch zu
untertreffen.
Normalerweise stehen die beiden selbst als Trash-Band Doctorella auf der
Bühne. Diesmal haben sie sich damit begnügt, ihre Moderation singend
vorzutragen. Wer die Grethers so digital zum ersten Mal erlebt, könnte den
Eindruck gewinnen, sie seien mit der Technik überfordert und starrten
deshalb so verstrahlt knapp neben die Kamera, während sie in falschen
Reimen, aber dafür etwas krächzend und schief, das Publikum willkommen
heißen. Die anderen erkennen den anarchischen Humor zwischen den Tönen und
die versteckten Schmunzler auf ihren Gesichtern.
Zwei Acts stechen an diesem Abend heraus und überzeugen aber auch ganz ohne
Ironie: Safi featuring Liv Solveig und Mira Mann.
Die zu Recht als Meisterin des Noise-Rock vorgestellte Safi schafft eine
dunkle, elegante Stimmung. Sie lässt raue Klangelemente wabern, durchbricht
sie mit schrillen Klaviermelodien und gibt dem Ganzen durch ihren lyrischen
Gesang eine klare Richtung: „Ein elektrisch geladener Wind dirigiert dieses
Tun.“
Safi singt und bewegt sich in Gegensätzen. Einerseits flüstert sie sachlich
gesetzte Worte, andererseits faucht und poltert sie umher. Sie ist ganz bei
sich, tanzt in wogenden oder kantigen Gesten und schaut dann dem Publikum
durch die Kamera direkt in die Augen und kommuniziert und spielt mit ihm,
so wie mit ihrer musikalischen Begleitung an dem Abend, Liv Solveig.
Auslöser für dieses sehr glückliche Zusammenspiel war die von Alin Coen ins
Leben gerufene Social Media Challenge #musicwomenwednesday, bei der
Musikerinnen sich gegenseitig interpretieren.
Solveig wechselt nach dem ersten Song von der E-Gitarre zur Violine und zum
Gesang, und hebt damit Safis Noise-Rock auf eine neue, noch
mehrdimensionalere ästhetische Ebene. Der letzte Song, „Wellen“, stammt von
Andrew Unruh, dem Perkussionisten der Einstürzenden Neubauten, der Safi mal
auf einer Party bat, das Stück zu covern. Ihre Version ist autonom, baut
sich immer weiter auf, bis der Autritt in vielfach geloopten Stimmen
hauchend endet: „Bleibst jetzt hier, bleibst jetzt hier, bleibst jetzt
hier!“
Doch wir gehen weiter an diesem Abend, und wo wir hingehen, wollen wir für
immer bleiben: im Film „Schau mich an“ der Dichterin und Musikerin Mira
Mann unter Regie von Jovanna Reisinger. Wie in einer Traumsequenz aus einem
60er-Jahre-Film oder in einem betörenden Ketaminrausch sind die Konturen
verschwommen, alles leuchtet in Pastell. Vier Frauen sitzen in einem
Garten, gekleidet in neongrüne und lavendelfarbene Kostüme wie englische
Ladies. In Zeitlupe schauen sie apathisch durch die Gegend, streicheln sich
über den pelzbesetzten Ärmel oder lassen ein Stück Kuchen in ihrem Mund
versinken. Dazu psychedelische Klangwellen und Manns Poesie.
Sie ist so gut, dass ich gar nicht über den Gegenstand ihrer Erzählung oder
über die Sprache an sich nachdenke. Stattdessen tauche ich ein in den Strom
ihrer Worte, die teilweise unzusammenhängend wirken, aber trotzdem einen
harmonischen Eindruck hinterlassen. Es geht um Grenzen, um Liebe, um
Verletzung und Freiheit. Oder sind das nur meine Gefühle, die sich da
herauskehren, ob der das Unterbewusstsein aktivierenden Kunstgriffe?
Gegen Ende wird die Sprache wieder konkreter, ich höre heraus: „Fick dich,
fick dich, soll mein ewiger Auftakt sein!“ und dann: „Schau mich an, schau
mich doch bitte gerne an.“
Mira Manns Vortrag ist geschmeidig, taktvoll, rau, cool, sexy, ruhig und
gekonnt. Ich lasse mich von ihm durchfließen, genau wie von den
Tunnelblicken dieser Frauen im Lustgarten, bis alles sinnlich wird und sich
öffnet, weich nach außen kehrt.
Was auf diese beiden Auftritte folgt, sind drei Acts, die an die Grenzen
meiner Trash-Toleranz stoßen. Das Pop-Duo Jolly Goods schwimmt in
Begleitung einer Katze durch schlecht animierte Unterwasserwelten. Darauf
folgt Natasha P. mit einer Mischung aus scheinbar improvisiertem
Nonsens-Gesang und einer Video-Collage aus banal gefilmten Dingen wie einer
Spinne, einem pupsenden Baby oder einem modrigen Bachufer. Das bringt mich
dazu, „Trash“ zu googlen. Im Duden erfahre ich, dass es sich dabei um den
bewussten Umgang mit Ramsch handelt. Ich bin mir sicher, dass Natasha P.
sich dessen bewusst ist, but does that alone a trash artist make?
Diese Frage begleitet auch den letzten Teil des Abends, in dem Sandra
Grether aus dem Buch „Sex Revolts“ von Joy Press und Simon Reynolds
vorliest, wobei ihre unkonzentrierte Art und eine laute monotone
Begleitmusik vom Text ablenken.
Genau das meine ich mit dem Talent, Erwartungen gleichzeitig zu über- und
zu untertreffen. Denn ich bin so voller Freude über die Entdeckung von Safi
und Mira Mann, dass ich auch den Rest ertrage. Er fordert meine
Aufmerksamkeit und trägt dazu bei, meine urteilende Seele ein bisschen
weiter zu öffnen.
Außerdem haben diese Lockdown-Konzerte ja einen entscheidenden Vorteil: die
Möglichkeit, zurückzuspulen …
19 Dec 2020
## LINKS
[1] https://www.ichbraucheeinegenie.de/2020/12/17/hier-gehts-zur-online-edition…
[2] /Berliner-Subkultur-Salon-im-Netz/!5675160
## AUTOREN
Zora Schiffer
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