# taz.de -- berliner szenen: Wie ein behäbiger Pottwal | |
Nur zwei Taxis schleichen noch durchs Regierungsviertel. Im Tiergarten ist | |
es zappenduster. Kein Fuchsauge wirft das Licht meines Radscheinwerfers | |
zurück. Auch die Potsdamer Straße präsentiert sich so verwaist, dass ich | |
auf die Fahrbahnmitte gleite, selbst noch, als sie ihren Namen zu | |
Hauptstraße wechselt. Am Kaiser-Wilhelm-Platz schwenkt ein Bus wie ein | |
behäbiger Pottwal über die Kreuzung. Die Scheiben sind für die herrschenden | |
Minusgrade überraschend klar, kein Atem beschlägt die Fenster. Ich bremse | |
und betrachte das fast opernhafte Spektakel in einer Zeit, in der nicht an | |
Opern zu denken ist. | |
Gestern hatte ich versucht, mit einer Freundin aus Buenos Aires eine Serie | |
von Zoom-Gesprächen zu organisieren. Kultur, Austausch, Vernetzung, | |
lauteten die Themen. Ich dachte, das fiele auf fruchtbaren Boden. Du, da | |
musst du dich aber beeilen, Dezember, Januar sind hier in Argentinien alle | |
am Meer, mahnte die Freundin. Wir sind in Berlin im zweiten Lockdown, | |
erwiderte ich. Und konnte mir gar nicht vorstellen, dass jemand in den | |
Urlaub fährt ans andere Ende der Welt. Als ich am nächsten Abend von der | |
Arbeit in Mitte nach Hause radle, fällt mir wieder ein, wie ich Anfang März | |
einmal hungrig und verzweifelt durch Schöneberg kurvte, wenige Minuten vor | |
Mitternacht auf der Nahrungssuche. Alles war zu – so wie jetzt. Und es | |
fühlte sich an wie drei Uhr nachts, es war aber erst elf. | |
Im März waren die Lieferketten unterbrochen. Aber neben der S-Bahn-Station | |
Schönberg brannte noch Licht. Ein Dönerimbiss, in den ich mich sonst nie | |
getraut hätte. Überraschung: Das Schnitzel im Brot bestand nicht aus | |
Formfleisch, sondern war aus der Hühnerbrust geschnitten und liebevoll | |
gebraten. Jetzt, ein halbes Jahr später, suchte ich dort vergeblich nach | |
Licht. | |
Timo Berger | |
9 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Timo Berger | |
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