# taz.de -- berliner szenen: Neue Heimat beim Friseur | |
Was das Haareschneiden betrifft, war ich bislang heimatlos. Ein Nomade auf | |
der ständigen Suche nach dem passenden Ort. Öfter dachte ich: Hey, dieser | |
Friseurladen ist der richtige, da gehst du jetzt immer hin. Dann bin ich | |
vielleicht noch mal hin, und irgendwas stimmte nicht. Weil ich den Friseur | |
doch unfreundlich fand oder weil plötzlich ein anderer Friseur da war; oder | |
aber weil der Laden zu teuer wurde. Aber ich glaube, ein wichtiger Grund | |
war immer wieder: Der Friseur fing an zu reden, und ich fand das | |
anstrengend. Weil ich dachte, ich muss jetzt interessante Dinge erzählen. | |
Wie wenn ich auf einer Party in der Küche stehe und smalltalken muss. | |
Und so ging die Suche weiter. Dabei habe ich keine Wege gescheut. Fuhr mit | |
der U-Bahn in entlegene Bezirke, um einen Laden auszuprobieren. Vor einiger | |
Zeit war ich mal wieder beim Friseur um die Ecke. Dort war nur der Meister | |
und sonst niemand. Er schnitt mir die Haare, ich zahlte, gab Trinkgeld und | |
ging. Alles ganz schnell. Aber ich will eh die Haare nur kurz haben ohne | |
Schnickschnack. Der Friseur hatte so einen melancholischen Blick, war sehr | |
freundlich und sprach fast kein Wort. | |
Er konnte nicht so gut Deutsch, glaube ich. Aber das war nicht der Grund | |
für seine Schweigsamkeit, da bin ich mir sicher. Er wirkte etwas in sich | |
gekehrt. Mir war das sympathisch. Ich hatte das Gefühl, dass das total in | |
Ordnung ist: Er schweigt, ich schweige, und er schneidet mir die Haare. | |
Ohne Smalltalk-Pflicht. Und die Schnippschnapp-Kurzhaarfrisur war prima, | |
ganz nebenbei gesagt. Vielleicht hab ich mich auch ein bisschen mit ihm | |
identifiziert, ich neige ja auch zur Schwermut. Ungefähr fünfmal war ich | |
jetzt schon dort. Ich glaube, er hat mich sogar wiedererkannt. Vielleicht | |
habe ich eine neue Heimat gefunden, gleich bei mir um die Ecke. Giuseppe | |
Pitronaci | |
11 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Giuseppe Pitronaci | |
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