# taz.de -- Abschied von den Reformideen | |
> Schon ein Jahrhundert lang werden jugendliche Straftäter*innen in Hamburg | |
> auf der Elbinsel Hahnöfersand inhaftiert. Bald soll ein neuer Knast | |
> gebaut werden. Es ist eine Jahrhundertentscheidung. Aber ist es eine | |
> Entscheidung für den Fortschritt? | |
Von André Zuschlag | |
Es war noch nicht einmal der erste Weltkrieg ausgebrochen, da mussten schon | |
Häftlinge ihre Haftstrafe erstmals auf der Elbinsel Hahnöfersand antreten. | |
Nur einige Baracken gab es zunächst auf der zweieinhalb Kilometer langen | |
und 700 Meter breiten Insel westlich von Hamburg. Klei und Schlick waren | |
anfangs von den Inhaftierten aufzubringen, um das Gelände überhaupt | |
anständig bebaubar zu machen. | |
Erst dann, nach dem Krieg, konnten die noch heute stehenden rot | |
verklinkerten Haftgebäude errichtet werden. Und erst dann, nachdem auch | |
schon russische Kriegsgefangene auf Hahnöfersand interniert waren, wurde | |
aus dem Gelände, das eigentlich in Niedersachsen liegt, Hamburgs | |
Jugendanstalt. Sie ist es bis heute, doch das Ende ist in Sicht. | |
Der Blick in die Anfangszeit zeigt, wie lange politische Bauentscheidungen | |
Bestand haben. Und er zeigt, dass Hamburgs Entscheidung für den Bau einer | |
neuen Jugendanstalt eine folgenreiche ist. Wer einen Knast baut, | |
entscheidet mindestens für einige Jahrzehnte – und mitunter für mehr als | |
ein ganzes Jahrhundert –, unter welchen baulichen Umständen Inhaftierte | |
ihre Haftstrafe absitzen. | |
Für die Justizbehörde ist seit Langem klar, dass es Zeit für den Bau einer | |
neuen, modernen Haftanstalt ist. Eine Sanierung der alten Anstalt stand nie | |
ernsthaft zur Debatte. „Langfristig betrachtet wirtschaftlicher und auch | |
fachlich vorzugswürdig“ sei der Bau einer neuen Anstalt, so die | |
Justizbehörde. Im Stadtteil Billwerder, nicht weit vom Stadtzentrum im | |
Osten Hamburgs, soll sie errichtet werden. | |
Ein zentrales Argument für den neuen Bau: Geografisch weiter weg vom Rest | |
der Gesellschaft als auf der Elbinsel können Inhaftierte wohl kaum sein. | |
Auch für Besucher*innen, die für die Inhaftierten ein Kontakt zur Außenwelt | |
sind, bedeutet ein Besuch eine kleine Tagesreise: Mit den öffentlichen | |
Verkehrsmitteln dauert es vom Stadtzentrum fast eineinhalb Stunden bis zu | |
den Toren der Jugendanstalt. | |
Die neue Jugendanstalt in Billwerder liegt besser angebunden. Angebunden | |
ist sie aber auch an die Vollzugsanstalt für Erwachsene. Für die Behörden | |
mögen die kürzeren Wege effizienter erscheinen, auch den Mitarbeiter*innen | |
kämen kürzere Dienstwege zugute, sagt die Justizbehörde. | |
Das neue Gefängnis sei aber vor allem aus pädagogischer Sicht sinnvoll: | |
„Der wichtige verantwortungsvolle Umgang mit Freiheit und Selbstbestimmung | |
kann in der Peripherie weniger gut trainiert werden.“ | |
Auch in der konkreten baulichen Umsetzung gibt es nach Ansicht der | |
Justizbehörde pädagogischen Fortschritt zu vermelden. Die Planung sieht | |
einen Gebäudekomplex vor, der durch eine Magistrale als zentraler | |
Orientierungspunkt sowie V-förmige Hafthäuser charakterisiert ist. Dafür | |
hat sich die Justizbehörde entschieden, weil so alle Bereiche, in denen | |
sich Gefangene regelmäßig aufhalten, gut einsehbar und übersichtlich sind. | |
Die gute Einsehbarheit, so die Argumentation, schütze vor Gewalt. Das | |
wiederum erleichtere den Resozialisierungsauftrag: „Dadurch, dass die | |
jungen Gefangenen weniger Angst vor Übergriffen Mitgefangener haben müssen, | |
sind sie im Umgang entspannter.“ | |
Die Gefangenen sind zu befähigen, künftig „in sozialer Verantwortung ein | |
Leben ohne Straftaten zu führen“. Das ist zentrale Aufgabe des | |
Strafvollzugs, besonders bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Und so steht | |
es auch im Gesetz. Doch kann das mit der neuen Haftanstalt und dem | |
baulichen Fokus auf Übersichtlichkeit gelingen? Ist Übersichtlichkeit | |
gleich Sicherheit und Gewaltprävention, und damit also Voraussetzung für | |
eine gelingende Resozialisierung? | |
Der beharrlichste Kritiker des Projekts ist Bernd Maelicke. Er ist | |
Kriminologe, war früher in Schleswig-Holstein für den Strafvollzug | |
verantwortlich und sagt, dass es einen idealen Knast ohnehin nicht gebe. | |
Aber wenigstens sollte doch der Gedanke der Resozialisierung gestärkt | |
werden. | |
Das aber sei weder vom Konzept her noch baulich der Fall, wenn mit dem | |
geplanten großen Gebäudekomplex vor allem auf Gewaltprävention gezielt | |
werde. „Die jungen Menschen brauchen Gelegenheiten, sich in | |
unterschiedlichen sozialen Situationen zu erproben“, sagt Maelicke. Das | |
Stichwort lautet „Dorf-Modell“. | |
Auf einem Gelände mit verteilten Gebäuden zum Schlafen, Essen, für Besuche | |
oder für die Werkstätten, eben wie in einem Dorf, würden die Jugendlichen | |
in jeweils unterschiedliche soziale Situationen versetzt. So könnten sie | |
lernen, gewaltfrei mit Konfliktsituationen umzugehen – eine Fähigkeit, die | |
sie für die Zeit nach der Haft brauchten. „Die Planung für Billwerder mag | |
für den Gefängnisbetrieb gut sein, nicht aber für die Resozialisierung der | |
Inhaftierten“, sagt Maelicke. | |
Am besten, findet er, wäre eine Sanierung der Anstalt auf Hahnöfersand. | |
Denn auf der Elbinsel sei das Dorf-Modell schon verwirklicht. Maelicke ist | |
überrascht, dass gerade Hamburg mit den neuen Plänen eine aus seiner Sicht | |
rückschrittliche Politik verfolgt, denn die Anstalt Hahnöfersand war in den | |
1920er-Jahren im Geist der Reformpädagogik gegründet worden. | |
Auch in den vergangenen Jahrzehnten habe es viele gute Ansätze gegeben, die | |
die pädagogische Arbeit in den Vordergrund stellten. „Ich hoffe, es kommt | |
nicht zu einer Fehlentscheidung, die für ein Jahrhundert Folgen hat“, sagt | |
Maelicke. | |
Und wenn schon eine neue Anstalt, gebaut werden solle, die nicht so weit | |
draußen liegt: „Warum“, so fragt er, „baut die Stadt nicht wieder nach d… | |
Dorf-Modell?“ | |
7 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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