# taz.de -- berlin viral: Sehnsucht nach dem Drinnensitzen | |
Vielleicht ist es für manch besorgte Berliner*in eher ein Luxusproblem, | |
jetzt wo die Zahlen steigen, Alkoholverbot und Sperrstunde beschlossen sind | |
und von der Gesundheitssenatorin das Ende der Geselligkeit ausgerufen | |
wurde. Und dennoch muss hier auch mal auf die Issues eines besonderen | |
Menschenschlags eingegangen werden. Denn es sind schlechte Zeiten für | |
Drinnis. | |
Der Drinni wird ja vom Klischee gern als stubenhockender Computernerd | |
beschrieben. Uns geht es hier aber um die Sorgen des gastronomischen | |
Drinnis – Menschen, die es in einer Gesellschaft von Frischluftfanatikern | |
und notorischen Draußensitzern in Coronazeiten besonders schwer haben. | |
Ein Gastro-Drinni geht bei schönem Wetter gern raus, liebt die Natur, fährt | |
Rad, springt in Seen – und wenn es angenehme 24 Grad hat und die Sonne | |
nicht gerade sticht, lässt sich es sich auch ein eingefleischter Drinni | |
gefallen, mal draußen zu sitzen. Er sieht es aber nicht ein, vor Bars und | |
Cafés sinnlos im Kühlen, Klammen, Windig-Zugigen oder gar Nasskalten zu | |
verweilen. | |
Schon im Frühjahr und Sommer war der Drinni an seine Grenzen gestoßen. Da | |
war einerseits die Sehnsucht nach menschlichem Kontakt und die landläufige | |
Meinung, der böse Virus könne einem draußen in auf Abstand bedachter Runde | |
nichts anhaben. Wie oft wäre er da schon gern mal reingegangen, hat aber | |
lieber nix gesagt, wir leben in der Diktatur der Draußis. Beziehungen, | |
Ausgehgemeinschaften können am Drinni-Draußi-Dilemma zerbrechen. Meist sind | |
daran die eingefleischten Draußis schuld – sie verteidigen ihr manisches | |
Tun, als sei das „Draußensitzen“ ein Wert an sich! | |
## Distinktionsgewinn durch Askese | |
Wenn auch die Müllabfuhr vorbeirumpelt, wenn auch der Fettabschneider | |
seiner Arbeit unter bestialischer Geruchserzeugung nachgeht – Hauptsache | |
draußen sitzen! Dabei frösteln Draußis auch – sie kennen aber die Lust am | |
Leiden und am Distinktionsgewinn durch Askese. | |
Wie so vieles war auch das im alten Berlin besser. Man saß gern drin. | |
Tatsächlich sind mir Anfang der Neunziger in einem hafennahen Szenebezirk | |
in Hamburg zum ersten Mal flauschige Decken aufgefallen, die auf Besucher | |
der Außengastronomie warteten. „Die sind ja krass drauf, die Norddeutschen! | |
Hocken frierend draußen und wickeln sich in Decken!“, dachte ich damals | |
noch. Ein, zwei Jahre später war es in Berlin so weit. | |
In diesem Coronasommer konnte sich der Drinni noch arrangieren, aber was | |
soll jetzt bloß werden? 73 Verben kennt der Drinni für das Frieren im | |
Freien: Er kann frösteln, frosten, er ver-, ge- und überfriert, bibbert, | |
bebt, schauert, schaudert, schlottert, schnattert, zittert, erkaltet, | |
erstarrt und vieles mehr. | |
Die medizinische Datenbank Pschyrembel weist fast 100 Krankheiten aus, die | |
durch Kälte hervorgerufen werden. Friert der Mensch, freuen sich Viren und | |
Bakterien, wartet der gefährliche Gehirnfrost. Nahezu alle Organe leiden | |
unter der Kälte, Neurodermitis, Asthma und Arthrose verschlimmern sich –, | |
von den Untenrumkrankheiten mal ganz zu schweigen. Aber Hauptsache draußen | |
sitzen! | |
Nun wird draußen weiter aufgerüstet. Fliegende Bauten, Heizpilze und | |
Feuertonnen werden die Gehwege verschandeln. Die Draußis werden mit | |
mediterranem Gestus cool bei winterlichen Temperaturen vor einer Chai-Latte | |
oder mit einem fast an den Fingern angefrorenen Longdrink hinter | |
Plastikfolien sitzen und sinnierend auf die Straße blicken. | |
Und selbst in geschlossenen Räumen wird es keine Ruhe geben. Denn dort ist | |
Lüften! Lüften! Lüften! – das Mantra der Stunde. Der beliebte badische | |
Sinnspruch, „Es ist noch keiner verstunken, aber manch einer verfroren“, | |
verbietet sich ja unter der Covid-19-Knute. Schlechte Zeiten für Drinnis. | |
Christiane Rösinger | |
19 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Christiane Rösinger | |
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