| # taz.de -- Komplexe Erinnerung | |
| > Anschreiben gegen das Happy-End: Weshalb Ruth Klügers Werke weiter leben | |
| > werden | |
| Bild: Ruth Klüger (1931–2020) | |
| Eines der markantesten Bonmots der nunmehr verstorbenen Ruth Klüger war es, | |
| dass sie nicht von Auschwitz herkomme, sondern aus Wien stamme. Sie wehrte | |
| sich mit diesem Satz gegen ihre Festlegung auf die Rolle des | |
| Holocaust-Opfers. | |
| Ruth Klüger war zuallererst Literaturwissenschaftlerin. So eingängig ihre | |
| Erinnerungstexte „weiter leben“ (1992) und „unterwegs verloren“ (2008) … | |
| wirken mögen, so sind sie doch vor allem deshalb so einzigartig, weil sie | |
| die Schwierigkeit einer akkuraten Erinnerung traumatischer, also partiell | |
| verdrängter Ereignisse sowie die generalisierende Behauptung einer | |
| Undarstellbarkeit von Auschwitz stets mitdachte und skeptisch diskutierte. | |
| Klüger analysierte ihre eigenen Bewusstseinstrübungen und Unsicherheiten | |
| selbstkritisch und attackierte zugleich jene identifikatorischen Lesarten | |
| eines Massenpublikums, das die Schilderungen ihres Überlebens als | |
| „Erfolgsgeschichte“ mit Happy-End zu konsumieren drohte. | |
| Der amerikanische Komparatist Michael Rothberg hat dieses Genre der | |
| Literatur Überlebender als „traumatischen Realismus“ definiert. Dabei | |
| handelt es sich um eine paradoxe Denkfigur, die ziemlich genau das | |
| beschreibt, was Klügers „weiter leben“ schon im Titel andeutet: Im Wissen | |
| um die Unmöglichkeit einer „wirklichen“ Wiederbelebung der Toten wird deren | |
| gespensterhafte Präsenz im Alltag der Überlebenden zu einer literarisch | |
| immer wieder neu zu konfigurierenden Realität, die in kreisenden, | |
| zweifelnden Bewegungen des Weiterlebens umschrieben wird. | |
| Klügers Bücher sind daher nur angemessen zu verstehen, wenn man sich auch | |
| mit den literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Autorin beschäftigt. In | |
| instruktiven Aufsatzsammlungen wie „Frauen lesen anders“ (1996), | |
| „Katastrophen. Über deutsche Literatur“ (1997) oder auch „Gelesene | |
| Wirklichkeit“ (2006) denkt sie scharfsinnig über so gegensätzliche | |
| literarische Phänomene wie Wahrhaftigkeit, den Kitsch als Lüge oder auch | |
| frauen- und judenfeindliche Klischees nach. Damit liest sie kanonische | |
| Werke auf erfrischende Weise gegen den Strich. Dass sie damit von Männern | |
| im Fach lange nicht ernst genommen wurde, schildert sie unter anderem in | |
| „unterwegs verloren“. | |
| Klügers autobiografisches Schreiben versucht dagegen im Gestus | |
| feministischer Emanzipation den Beweis anzutreten, dass es im Wissen um | |
| früheres Scheitern in der Literaturgeschichte im Idealfall historische | |
| Erfahrungen zu fassen vermag, die der Geschichtswissenschaft entgehen. | |
| Sowohl in ihren literaturwissenschaftlichen Interpretationen als auch in | |
| ihren autobiografischen Texten beleuchtet Klüger den komplexen Vorgang und | |
| die gesellschaftliche Konstruktion der Erinnerung selbst. Das ist es, was | |
| es auch nach ihrem Tod weiter als bleibende Errungenschaft ihres Schreibens | |
| zu entdecken gilt. Jan Süselbeck | |
| 10 Oct 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Süselbeck | |
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