# taz.de -- „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“ | |
> Barbara Mundel ist die neue Intendantin an den Münchner Kammerspielen. | |
> Sie knüpft an die weibliche Geschichte des Hauses an | |
Bild: Barbara Mundel kehrt als neue Intendantin der Kammerspiele nach München … | |
Interview Annette Walter | |
taz: Frau Mundel, wie fühlt sich Ihre Rückkehr an die Kammerspiele und nach | |
München an? Sie haben in dieser Stadt ja studiert und waren 2005/2006 unter | |
dem Intendanten Frank Baumbauer als Chefdramaturgin tätig. | |
Barbara Mundel: Es fühlt sich gut an, in dieser Stadt zu sein. Ich mag | |
München. Meine Leidenschaft für die Kammerspiele hat mit dieser Architektur | |
und diesem Gebäude zu tun. Alles ist sehr dicht zusammen: Werkstätten, | |
Probebühne und die Spielstätten, es sind keine weiten Wege, man begegnet | |
sich permanent in den verschiedenen Abteilungen. Das finde ich besonders. | |
Die Kammerspiele sind ein Haus mit einer ganz besonderen Geschichte, | |
Tradition und Menschen. Es gibt ein streitbares Publikum, was ich großartig | |
finde. | |
Werden die Kammerspiele mit Ihnen weiblicher? Sie haben mit Viola | |
Hasselberg eine Chefdramaturgin und wollen mehr weibliche Perspektiven ans | |
Haus holen. Unter Lilienthal waren die Kammerspiele ein männlich | |
dominiertes Theater. | |
Das war bei Johan Simons und Dieter Dorn auch so. Es waren schon die | |
Männer, die mit ihrem Stil und ihrer Art zu kommunizieren, das Haus geprägt | |
haben. Wir wollen die vergessene weibliche Geschichte zurückholen. Deshalb | |
benennen wir zum Beispiel die Kammer 2 in Therese-Giehse-Halle um – nach | |
einer der interessantesten, berühmtesten Schauspielerinnen der | |
Kammerspiele. Wir machen das Projekt „Bayerische Suffragetten“, denn | |
München war vor 120 Jahren eine absolute Hochburg der Frauenbewegung. In | |
den 1950ern hat man es nicht geschafft, an viele Dinge, die die Frauen | |
damals gedacht haben, anzuknüpfen. Das versuchen wir ins Gedächtnis zu | |
rufen. Wir versuchen aber generell, viele unterschiedliche Perspektiven an | |
das Haus zu holen. | |
Gibt es ein Thema oder Motto Ihrer ersten Spielezeit? Die Stücke sind ja | |
ganz unterschiedlich. Die erste Premiere ist „Touch“, eine Arbeit zwischen | |
Schauspiel und Tanz von Falk Richter und Anouk van Dijk, dann läuft | |
„Habitat München“, eine Performance, die auch Münchner*innen einbezieht, … | |
gibt Romanbearbeitungen von Ernst Toller oder Gabriele Tergit, aber auch | |
zeitgenössische Dramatiker*innen oder Klassiker wie Thomas Bernhards | |
„Heldenplatz“. | |
Unser Motto für die nächsten Jahre lautet: „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe | |
lassen“. Wir verstehen uns als eine Plattform für politische und | |
gesellschaftliche Diskussionen und als Labor für die Gegenwart und die | |
Zukunft. Eine Sache ist wichtig: Was sagt uns ein Blick auf die Geschichte | |
für das Heute? Die Auseinandersetzung mit Ernst Toller ist vielleicht | |
exemplarisch dafür, aber auch der Roman „Effingers“ von Gabriele Tergit. | |
Die Frage nach Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit von heute aus | |
beantworten, aber mit diesem historischen Material, ohne simple Vergleiche | |
und Parallelitäten. Wir wollen untersuchen, wie uns die permanente | |
Gegenwart manchmal den Blick für Erkenntnisse verstellt. Es gibt eine | |
Produktion über das Oktoberfestattentat, also eine Auseinandersetzung mit | |
verdrängter Geschichte, die jetzt so langsam aufgearbeitet wird. | |
Exemplarisch erleben wir gerade wieder den erstarkenden Nationalismus und | |
Antisemitismus und möchten zu diesen Themen eine Verbindung zu der Stadt | |
herstellen. Außerdem bemühen wir uns um eine enge Zusammenarbeit mit | |
zeitgenössischen Autor*innen. Welche Chance hat komplexere, literarische | |
Sprache in einer Zeit, in der wir teils extrem verknappt kommunizieren. | |
Sie holen auch Menschen mit Behinderung in Ihr neues Ensemble. Was ist Ihre | |
Intention dabei? | |
Ich habe ja, als ich in den 1990er Jahren an der Volksbühne war, viel mit | |
Christoph Schlingensief gearbeitet, bei dem es selbstverständlich war, dass | |
Menschen mit Behinderung Teil des Ensembles waren. Das empfand ich als | |
große Bereicherung, und das sehe ich auch jetzt so. Die Coronapandemie | |
stellt uns vor ein Riesenproblem: Unsere Kolleg*innen von der Freien Bühne | |
München, Frangiskos Kakoulakis, Fabian Moraw, Luisa Wöllisch und Dennis | |
Fell-Hernandez, sind besonders gefährdet und können seit Monaten nicht bei | |
uns proben. Gott sei Dank gilt das nicht für unsere zwei Ensemblemitglieder | |
mit körperlicher Beeinträchtigung, Erwin Aljukic und Lucy Wilke. Überdies | |
freut es mich sehr, dass Lucy Wilke eine Nominierung für den Faustpreis | |
erhalten hat. | |
Gibt es weitere Maßnahmen für mehr Inklusion, die Sie vorhaben? | |
Wir bemühen uns um Zugänglichkeit auf allen Ebenen: Wir gestalten unsere | |
Website neu mit der Stiftung Pfennigparade, einem Münchner | |
Rehabilitationszentrum. Wichtig ist uns aber auch die Übertitelung der | |
Produktionen: Ist das immer nur das Englische? Macht Leichte Sprache unsere | |
Produktionen nicht zugänglicher für Menschen, die des Deutschen nicht so | |
gut mächtig sind? Wir verstehen die Münchner Kammerspiele als ein Theater | |
für die Menschen der Stadt. | |
Was haben Sie von Schlingensief gelernt? Sie waren bei ihm als Dramaturgin. | |
Die Volksbühne war ein Biotop, an dem man sehr viel ausprobieren konnte. | |
Ich teilte mit ihm Humor, und die Leidenschaft und Unbedingtheit, mit der | |
er sich in seine völlig unabgesicherten Projekte gestürzt hat, die fand ich | |
mitreißend und befreiend. Am meisten beeindruckt war ich durch die Freiheit | |
des Denkens und des Ausprobierens. Wie schafft man es, dass Stadttheater | |
wirklich Orte von Freiheit sind? Das ist nicht leicht, das gelingt | |
manchmal, wie damals, als ich in Basel bei Frank Baumbauer gearbeitet habe. | |
Auch die Volksbühne hatte solche Momente. | |
Wegen Corona gibt es nur 200 Sitzplätze, die Stücke müssen kürzer sein. Wie | |
gehen Sie mit diesen Herausforderungen um? | |
Wir möchten das Theater und seine Räume als Versammlungsräume behaupten, | |
bevor wir alles ins Digitale legen. Es heißt nicht, dass wir nicht streamen | |
werden. Aber in erster Linie interessiert uns, dass wir Künstler*innen, die | |
sich mit der digitalen Welt künstlerisch auseinandersetzen – wie unser | |
Artist-in-Residence Luis August Krawen – ans Haus binden. In der Produktion | |
gab und gibt es heftige Diskussionen und unterschiedlichste Positionen zum | |
Thema Hygienevorschriften etc. Die einen sagen: Abstand = Achtsamkeit, die | |
anderen: Das ist der Tod meiner Kunst. Neben den künstlerischen | |
Herausforderungen stehen die Theater aber auch vor großen finanziellen | |
Herausforderungen. | |
Wie verändert die Coronapandemie die künstlerische Arbeit generell? Das | |
Happening „What is the City but the people?“ kann ja nicht in der geplanten | |
Form stattfinden. | |
Die erzwungene Absage dieser Performance auf dem Odeonsplatz mit 150 | |
Münchner*innen ist besonders bitter, weil dieses Projekt für unsere | |
künstlerische Programmatik sehr wichtig war und wir im künstlerischen | |
Prozess schon sehr weit waren. Außerdem werden einige unserer | |
internationalen Produktionen nicht stattfinden. Das ist ein herber | |
Rückschlag. | |
Die Kammerspiele wurden unter Matthias Lilienthal zweimal zum Theater des | |
Jahres gekürt. Empfinden Sie das als Bürde? | |
Das ist natürlich eine Messlatte, vor allen Dingen innerhalb der | |
Kulturszene. Wir befinden uns in einem Prozess, in dem wir versuchen, auch | |
eigene und andere Erfolgskriterien für uns zu bestimmen. Dennoch ist es | |
toll für die Kammerspiele und die Mitarbeiter*innen, dass durch diese | |
Auszeichnung die Arbeit der letzten Jahre auf diese Weise wertgeschätzt | |
wurde, nicht nur von der Kritik, sondern auch im hohen Maße vom Münchner | |
Publikum. | |
5 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Annette Walter | |
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