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# taz.de -- berliner szenen: Keine Zeit, Daumen zu drehen
Im Görlitzer Park hab ich einen Mann gesehen, der saß auf einer Bank und
drehte Däumchen. Eigentlich müsste ich „Daumen“ schreiben – er war ein
älterer Herr, bestimmt Rentner, groß und kräftig. So einer hat Daumen,
nicht Däumchen. Aber man kennt die Tätigkeit ja nur noch von der
Redewendung „Däumchen drehen“. Klingt abwertend. In der Art: „Ich saß e…
Stunde im Wartezimmer und hab Däumchen gedreht.“ Damit drückt man aus, dass
man Zeit vergeudet.
Aber der Mann im Park wirkte nicht nervös. Er guckte, hatte die Hände
gefaltet und ließ die Daumen Karussell drehen. Mich rührte das an. Ich
glaube, ich habe mal bei einer alten Tante oder Großtante von mir in
Sizilien gesehen, wie sie Daumen drehte. Mich verblüffte es damals schon,
dass man das wirklich machen kann, Daumen drehen. Das gibt’s nicht nur als
Redewendung.
Nun aber saß ich in Kreuzberg auf einer Bank, guckte auf den Mann mit den
Daumen und die anderen, die in der Sonne saßen, schlenderten oder radelten.
Ich hätte auch Daumen drehen können. Aber vermutlich hätte ich dann
gedacht: „Hey, du sitzt hier und drehst Däumchen, das ist ja aberwitzig.“
Ich vermute, Daumendrehen stirbt aus. Es überlebt nur in der Redewendung,
die uns dran erinnern soll, dass Daumendrehen aberwitzig ist. Wie
Rumgucken. Oder Abwarten. Daumendrehen ist etwas aus einer anderen Zeit,
etwas für Leute, die, wenn sie nicht arbeiteten, nicht viel anderes
machten. Sie lasen nicht, weil sie es nicht konnten oder nicht gewöhnt
waren. Wenn man heute nicht arbeitet, liest man oder meditiert oder
unterhält sich. Man macht was, dass niemand denkt: Was sitzt der da und
dreht Däumchen?
Irgendwann stand der Mann auf und ging. Dabei schloss er seine Hände hinter
dem Rücken. Noch so eine altmodische Geste. Möchte ich bald ausprobieren,
bin alt genug. Giuseppe Pitronaci
14 Aug 2020
## AUTOREN
Giuseppe Pitronaci
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