# taz.de -- Das Hansaviertel ist ein Gebirge | |
> Von schneebedeckten Gipfeln und türkisen Bergseen träumen: Der Hamburger | |
> Künstler Jan Köchermann hat das mythisch überhöhte Matterhorn nach Moabit | |
> gebracht | |
Bild: Humorvoll ist die Installation am Hansaplatz | |
Von Marlene Militz | |
Kommt man mit dem Fahrrad die Altonaer Straße entlanggefahren, dann sieht | |
man ihn erst gar nicht. Dabei ist er vom Fuß bis zur Spitze sicherlich acht | |
Meter hoch. Trotzdem muss man ihn suchen. [1][Ich stehe auf dem Hansaplatz, | |
schaue mich um] und gehe schließlich in Richtung Hansabibliothek. Hinter | |
dem einstöckigen Gebäude entdecke ich ein schmales Gerüst. Ich laufe einen | |
Bogen und erst da wird er sichtbar. Der etwa zwei Zentimeter schmale Berg | |
offenbart seine Großflächigkeit erst in der Frontalansicht. Nähert man sich | |
von seiner Seite, übersieht man „Horu“ glatt. | |
„Horu“ ist ein Berg mit vielen Namen. Die Grenze, die die Schweiz von | |
Italien trennt, wurde genau über den 4.478 Meter hohen Alpenberg gezogen. | |
Und so wird er von Italienern Monte Cervino, von Franzosen Mont Cervin, von | |
Deutschen Matterhorn und von den Schweizern des Kanton Wallis liebevoll | |
Horu genannt. Der Künstler Jan Köchermann hat ihn jetzt nach Berlin | |
gebracht. Es ist die letzte Aktion des Modellprojekts [2][„Kunst im | |
Stadtraum am Hansaplatz“], das vom Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte | |
des Bezirksamts Mitte in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Kultur | |
und Europa realisiert und mit städtischen Mitteln finanziert wurde. | |
Ich bin die Einzige, die an diesem heißen Spätnachmittag andächtig vor Horu | |
steht. Immer wieder kommt eine Handvoll Menschen aus der U-Bahn-Station, | |
die direkt an die Hansabibliothek grenzt. Niemand von ihnen scheint sich | |
über den acht Meter hohen Alpenberg zu wundern, der sich in einem | |
backsteinberandeten Wasserbecken spiegelt. Obwohl im Wasser eine Bierdose | |
schwimmt und das Becken zu schmal ist, um die ganze Spiegelung des Berges | |
aufzunehmen, wirkt es doch wie Horus eigener türkiser Bergsee. | |
Durch eine weiße und eine grau bemalte Fläche bekommt der Berg Plastizität. | |
Er hat eine von der Sonne beschienene schneebedeckte und eine schattige | |
Seite. Auf der schattigen Seite, am Fuße des Berges, klafft ein schwarzes | |
Loch, eine Berghöhle. Ich googele das Matterhorn und finde Bilder eines | |
außerordentlich attraktiven Berges, der tatsächlich die spitze | |
Pyramidenform hat, die die Bergattrappe am Hansaplatz simuliert. Er sieht | |
aus wie von Hand modelliert. Jan Köchermann hat das Matterhorn gut | |
porträtiert. „Wegen seiner markanten Gestalt und seiner | |
Besteigungsgeschichte ist das Matterhorn einer der bekanntesten Berge der | |
Welt“, lese ich auf Wikipedia. Horu ist also berühmt ob seiner Schönheit. | |
Er macht auch eine gute Figur auf dem Hansaplatz. In seiner direkten | |
Umgebung überragt er zwar alle Gebäude. Doch auch das Hansaviertel ist ein | |
Gebirge. Es entstand im Zuge der Internationalen Bauausstellung von 1957, | |
die das zerstörte Viertel im Sinne des neuen Bauens von 53 Architekten aus | |
aller Welt neu gestalten ließ. Und so kommt es, dass hinter Horu ein | |
Wohnkomplex von Oskar Niemeyer und ein weiterer von Egon Eiermann in die | |
Höhe ragen. Und wenn man auf Horus Spitze klettern könnte, würde man von | |
dort oben auf das leicht gebogene Wohngebäude von Walter Gropius blicken | |
können. Horu befindet sich also in guter Gesellschaft. | |
Ich öffne Google Maps und lasse die Route vom Hansaplatz zum Matterhorn | |
berechnen. Wenn ich jetzt mit dem Auto losfahren würde, wären es genau 12 | |
Stunden und 44 Minuten. Alternativ könnte ich 213 Stunden wandern. Dann | |
stünde ich auf der Bergspitze. Ich ziehe den kleinen gelben Mann aus der | |
unteren Ecke des Bildschirms, lasse ihn kurz baumeln und setze ihn dann | |
direkt auf das Matterhorn. Und tatsächlich. Ein tapferer Wanderer hat für | |
Google Maps den Blick vom Matterhorn aufgenommen. Blauer Himmel, ein paar | |
weiße Wolken, auf die man von hier oben hinunterschaut. Ich sehe spitze | |
Bergketten, die nur auf einer Seite mit Schnee bedeckt sind. Direkt vor mir | |
liegt ein roter Wanderrucksack. Links unter mir entdecke ich einen türkisen | |
See. | |
Ich löse meinen Blick vom Bildschirm und schaue wieder auf Horu, den | |
Stadtberg, hinter dem eine Straßenlaterne hervorlugt. Ich gehe ganz nah | |
heran und begutachte die Berghöhle, in die man tatsächlich reinklettern | |
kann. In das Gerüst, das den schmalen Berg aufrechterhält, ist eine kleine | |
Hütte eingebaut, die den Hohlraum der Höhle ausmacht. Ich drehe mich um und | |
entdecke schräg gegenüber ein kleines unbesetztes Holzhäuschen. Beim | |
Näherkommen identifiziere ich es als Souvenirshop. Es liegen Postkarten und | |
Informationsmaterial zum Matterhorn aus. | |
Mich überkommt Fernweh. Wie gern würde ich in die Walliser Alpen fahren und | |
schon von weitem die mir nun so bekannte pyramidenartige Silhouette vor | |
hellblauem Himmel erkennen. Es ist die Sorte Fernweh, die mir und meiner | |
Generation bis vor Kurzem unbekannt war. Vorerst muss ich mich mit dem | |
Stadtberg zufriedengeben. Und das ist auch okay. | |
Horu steht bis zum 20. September am Hansaplatz. Am 19. 9. finden eine | |
Lesung mit Dagrun Hintze und ein Künstlergespräch mit Jan Köchermann statt | |
11 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /!5422425&SuchRahmen=Print | |
[2] https://kunst-im-stadtraum.berlin/ | |
## AUTOREN | |
Marlene Militz | |
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