# taz.de -- Ende der Globalisierung | |
> Ivan Krastev zählt zu den meistgelesenen Intellektuellen. In seinem neuen | |
> Essay denkt er über die Welt nach der Pandemie nach | |
Von Fabian Ebeling | |
Man könnte meinen, dass Intellektuelle in der Covid-19-Pandemie bisher | |
blass geblieben sind. Man könnte aber auch meinen, dass Besonnenheit – ganz | |
besonders in einer Zeit, in der sich täglich Sachlagen verändern können – | |
die bessere Wahl ist, statt Halbgares rauszuhauen. | |
Im März 2020 setzte sich der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan | |
Krastev also hin, isoliert im bulgarischen Landhaus eines Freundes, und | |
schrieb auf, was er über die Pandemie denkt. In „Ist heute schon morgen? | |
Wie die Pandemie Europa verändert“ sucht er nach Mustern, mit denen der | |
kommende Gesellschaftswandel in Europa zu beschreiben wäre. | |
Das ist ein spannendes, auch ein schönes Vorhaben, und als Leser*in wird | |
man auch nicht enttäuscht von Krastevs vorsichtigem Optimismus, der trotz | |
kräftezehrender Weltlage immer wieder durchscheint. Auf dem Weg durch | |
diesen Essay begegnet man allerdings erwartbaren Denkfiguren aus dem Kanon | |
der Geistesgeschichte, die sich im Pandemieszenario anbieten, etwa Jeremy | |
Benthams Panoptikum oder Carl Schmitts Ausnahmezustand. Wäre nicht | |
Krastevs Movens, diese Figuren immer wieder gegen den Strich zu bürsten, | |
sie lüden fast zum Überlesen ein. | |
Manche Argumente des Textes wirken in ihrer Konstruktion etwas weit | |
hergeholt: Eine kenianische Studentin überlebt das Attentat auf das dortige | |
Garissa University College 2015 nur, weil sie schnell die Koranverse | |
auswendig lernt und aufsagt, die auch ihre muslimischen | |
Kommiliton*innen im Angesicht der Hinrichtung durch Al-Shabaab-Milizen | |
rezitieren und die verschont bleiben. | |
Diese Nachahmungslogik – entlehnt vom französischen Sozialpsychologen | |
Gabriel Tarde – ließe sich auch auf die Reaktionen unterschiedlichster | |
Staaten auf die Pandemie beziehen. Dass die Ebenen hier etwas | |
durcheinandergeraten, ist vielleicht der Schnelllebigkeit dieser Tage | |
geschuldet. | |
Davon abgesehen diagnostiziert Krastev aber zu Recht, dass entlang der | |
Pandemie ohnehin bestehende Missstände zutage träten. So beschreibe der | |
„Mittelschicht-Luxus“ Social Distancing zum Beispiel die schiefen | |
Klassenverhältnisse in Europas Gesellschaften – nicht alle könnten sich | |
eben die Isolation im Landhaus in den Bergen gönnen. Das Problem sei nur, | |
dass es für Pandemien keine so ausgeprägte Erinnerungskultur gebe wie für, | |
sagen wir mal, Kriege. Deswegen bleibt es offen, wie Gesellschaften nach | |
der Krise mit diesen Schieflagen umgehen werden. | |
Eines scheint jedenfalls festzustehen: Das Virus „verheißt“ ein Ende der | |
Globalisierung, wie wir sie kennen. Schaut man auf die genaue Bedeutung des | |
Verbs „verheißen“, also „nachdrücklich, feierlich in Aussicht stellen�… | |
lässt sich vermuten, dass Krastev dem nicht ganz unglücklich | |
entgegenschaut. Oder doch anders? Das ist die Krux: Krastev ist kein Autor | |
der lauten Worte, er schreibt gegen den Populismus an, gegen die dicken | |
Mittelfinger, die Leute wie Viktor Orbán der EU zeigen, aber manchmal | |
wünschte man sich vielleicht doch eine noch schärfere Positionierung des | |
Autors. | |
Zwischen den Zeilen schwelt bei Krastev ein Konflikt unter den europäischen | |
Mitgliedstaaten, in denen illiberale Züge zutage treten. Eine Option deutet | |
sich in diesem Bändchen aber an: Liberale Demokratien müssen weniger | |
Globalisierung wagen, ohne aber ihren Liberalismus abzulegen. | |
Darüber hinaus ist es ohnehin nötig, den Liberalismus neu zu denken, der ja | |
an den Nationalismen und Imperialismen der Geschichte nicht unschuldig ist. | |
Krastev lädt zu diesem Nachdenken ein. Antworten müssen wir freilich selbst | |
suchen. | |
8 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Fabian Ebeling | |
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