# taz.de -- Die Zeit ist um | |
> Er kam nach Berlin, um zwei Monate bei der taz zu arbeiten. Geblieben ist | |
> er vier Jahre. Die Zeit bei taz.gazete war voller Erfahrungen, Aufregung, | |
> Konflikte, Freude und Enttäuschungen | |
Von Ali Çelikkan | |
Im Sommer 2016 lernte ich in einer Bar in Beşiktaş Deniz Yücel kennen. Ich | |
erzählte ihm von meinen Plänen, zwei Monate als Gastjournalist bei der taz | |
zu arbeiten, und er riet mir, mich weder still in eine Ecke zu setzen noch | |
mit der Tür ins Haus zu fallen. Aus den zwei Monaten sind vier Jahre | |
geworden und ich hab es nicht geschafft, mich an diese Empfehlungen zu | |
halten. | |
Am 4. Oktober 2016 war mein erster Arbeitstag bei der taz. Zur Begrüßung | |
sollte ich direkt einen Kommentar zu zehn Jahren Wikileaks schreiben. So | |
richtige Ahnung hatte ich weder vom Thema noch vom Format, und entsprechend | |
kritzelte ich mir etwas zusammen. Am ersten Arbeitstag. Was für ein | |
Privileg. In jedem Fall war schon mal klar, dass ich nicht still in einer | |
Ecke sitzen würde. Ich konnte es kaum glauben, als ich am nächsten Morgen | |
meinen Namen auf der Titelseite erblickte. | |
In der Türkei hingegen wurde die Lage sehr schnell sehr beschissen. Das | |
ging mit einem riesigen Interesse an Nachrichten aus dem Land einher. Ganz | |
Deutschland schien seine Augen auf die Türkei gerichtet zu haben. Was hatte | |
Erdoğan vor? Wohin entwickelte sich das Land? Im November wurden meine | |
Kolleg*innen von der Tageszeitung Cumhuriyet, bei der ich in Istanbul | |
gearbeitet hatte, festgenommen. Daraufhin initiierte die taz Panter | |
Stiftung ein Projekt zur Unterstützung der Pressefreiheit in der Türkei. So | |
kam es zur Gründung von taz.gazete. | |
Während die Türkei sprichwörtlich täglich von neuen politischen Ereignissen | |
erschüttert wurde, fand ich mich in Berlin in der Position des | |
„Türkeiexperten“ wieder. Ich schrieb Artikel und Kommentare und saß auf | |
Panels, um die Lage in der Türkei für ein deutschsprachiges Publikum zu | |
bewerten. Dabei lernte ich mein journalistisches Handwerkszeug noch einmal | |
von Neuem. Da mir die Sprache und die gesellschaftlichen Dynamiken | |
Deutschlands sowie der Redaktionsalltag und der journalistische Stil | |
deutscher Medien fremd waren, war der Glaube daran, dass wir hier etwas | |
Gutes und Richtiges machten, umso wichtiger, um die unvermeidlichen Mängel | |
auszugleichen. Ich war schließlich nicht alleine: Wir waren ein gutes Team | |
bei gazete und wir machten unsere Arbeit gerne. Fast täglich fragte die | |
Printredaktion bei uns einen Artikel an. Bis ins erste Halbjahr 2018 | |
schlitterten wir so mit viel Elan und Freude. | |
Der Juni 2018 war für uns ein Wendepunkt. Das war kurz vor den | |
Präsidentschaftswahlen, die nicht nur für die Demokratie in der Türkei, | |
sondern auch für das öffentliche deutsche Interesse der Sargnagel werden | |
sollten. Wir bemühten uns, mit allen Kandidatinnen und Kandidaten | |
Interviews zu machen, und das führte zu einem Konflikt mit dem erfahrenen | |
Türkeikorrespondenten der taz. Die Folgen waren für uns verheerend. Es | |
wurde deutlich, dass wir nie wirklich ein Teil der taz gewesen waren. | |
Zwar hatten wir über eineinhalb Jahre hinweg mit Hunderten von Artikeln zu | |
einer tieferen Türkeiberichterstattung der taz beigetragen, doch plötzlich | |
wurde uns klargemacht, dass wir ein Satellitenprojekt waren, das kaum | |
jemanden im Haus so richtig interessiert. Und die Türkei lag jetzt in der | |
Schublade der autokratischen Länder neben Russland und China. Da brauchte | |
es auch keine besondere Aufmerksamkeit oder spezielle Themenschwerpunkte | |
mehr. Unsere Telefone klingelten nicht mehr. Unsere E-Mails blieben | |
unbeantwortet. Wenn wir uns besonders bemühten, einen Artikel in der | |
Printausgabe unterzubringen, dann führte das zu neuen und aufreibenden | |
Konflikten. Jede neue Diskussion machte uns klarer, in welcher Position wir | |
uns befanden: Unser Zeitkonto war aufgebraucht. Wir hatten wie ein | |
Subunternehmer gearbeitet, und jetzt war der Vertrag abgelaufen. | |
Wie Gespenster liefen wir über die Korridore. Schweigend saßen wir an | |
unseren Arbeitsplätzen und arbeiteten an Themen, die niemand zu sehen | |
bekam. Trotzdem gab es keinen Tag, an dem ich morgens nicht gern zur Arbeit | |
gekommen wäre. Denn unser Daseinsgrund war die Arbeit mit den | |
Journalist*innen in der Türkei, und darauf konzentrierten wir uns. | |
Natürlich hatten auch wir unseren Teil zu der Entfremdung beigetragen. Die | |
Erkenntnis, dass unsere Arbeit nicht wertgeschätzt wurde, war ermüdend, und | |
so ganz geht mir der Satz nicht über die Lippen, dass wir immer unser | |
Bestes gegeben haben. Aber wir haben gern miteinander gearbeitet. Und wir | |
waren überzeugt, dass unsere Arbeit wichtig ist. Wir haben mit tollen | |
Menschen zusammengearbeitet. Wir haben einander unterstützt und voneinander | |
gelernt. Deshalb weiß ich jetzt schon, dass ich im Rückblick kaum etwas als | |
Dankbarkeit spüren werde, dass es dieses Projekt gab und dass ich an ihm | |
mitarbeiten durfte. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
24 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
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