# taz.de -- „Petitionen sind einSeismograf für Stimmungen“ | |
> Der Politikwissenschaftler Markus Linden erklärt, warum Petitionen | |
> insbesondere im Internet immer populärer werden. Und warum sie | |
> parlamentarische Prozesse zwar ergänzen, nicht aber ersetzen können | |
Bild: Ein Anliegen an das Parlament herantragen | |
Interview Felix Lorber | |
taz am wochenende: Herr Linden, in den vergangenen zwei Monaten wurden | |
online viele Petitionen mit Bezug zu den Coronamaßnahmen gestartet. Eine | |
normale Reaktion in Krisenzeiten? | |
Markus Linden: Das Petitionsaufkommen der letzten zwei Monate geht sicher | |
einerseits auf die Coronakrise zurück und damit auf eine Situation, in der | |
viele Menschen verunsichert sind und versuchen, ihre Sorgen zu | |
artikulieren. Andererseits steht es im Kontext eines Langzeittrends, der | |
mit der Attraktivität dieser niedrigschwelligen Partizipationsform | |
zusammenhängt: Petitionen sind schlicht en vogue. | |
Man könnte auch sagen, die Bürger*innen erheben ihre Stimme. Erleben wir | |
eine Demokratisierung? | |
Insgesamt kann man das so sagen. Petitionen stellen ein Feld der | |
Demokratiepolitik und auch der Demokratisierung dar, mit dem Druck | |
aufgebaut werden kann. Ich würde sie als einen Seismografen bezeichnen, der | |
Stimmungen in der Bevölkerung abbilden kann – darunter gerade auch Stimmen, | |
die so bislang im parlamentarischen Prozess nicht wirklich sichtbar waren. | |
Kann so etwas tatsächlich zu Politikänderungen führen? | |
Erfolgreiche Petitionen können mindestens Reaktionen innerhalb der Politik | |
hervorrufen. Das liegt besonders an den Möglichkeiten der „öffentlichen | |
Petitionen“ … | |
… das ist eine Sonderform: Der Bundestag hat ein Forum eingerichtet, wo | |
Petitionen online eingestellt und dann unterschrieben werden können. | |
Diese Petitionen sind über den Petitionsausschuss direkt an den Bundestag | |
angekoppelt: Wenn es gelingt, innerhalb von vier Wochen 50.000 | |
Unterschriften zu sammeln, wird eine öffentliche Aussprache im Ausschuss | |
zugesichert. So können auch innerhalb einer Legislaturperiode Stimmungen in | |
Debatten überführt werden. Das ist ein Fortschritt. | |
Gibt es Beispiele für Petitionen, die es in den Bundestag geschafft oder zu | |
Veränderungen geführt haben? | |
Die Senkung der Mehrwertsteuer auf Hygieneprodukte geht zum Beispiel auf | |
eine erfolgreiche Petition beim Deutschen Bundestag zurück. Oft ist ein | |
Zusammenspiel von parlamentarischen Petitionen und Parlamentarier*innen, | |
die diese dann aufnehmen, zu beobachten. Das gilt etwa für die | |
Legalisierung von Cannabis in der Schmerztherapie oder jüngst für | |
außenpolitische Themen, zum Beispiel die Beziehungen zu Taiwan, die | |
Menschenrechtslage in Hongkong oder Chinas Einfluss auf deutsche | |
Unternehmen. Auch spezielle Gruppen konnten ihre Anliegen sichtbarer | |
machen, zum Beispiel psychisch Kranke, Hebammen oder Gamer*innen. | |
Ein Großteil an Petitionen findet aber auch auf den beliebten | |
Onlineplattformen wie change.org oder openPetition statt. Können diese | |
wirklich etwas bewirken? | |
Bei den privaten Plattformen fehlt die Verbindlichkeit. Das heißt, wenn Sie | |
bei einer privaten Plattform unterschreiben, entsteht daraus noch nicht | |
automatisch eine Debatte, da eine solche Petition nicht zwingend im | |
Parlament landet. Dafür bieten die Petitionsseiten die Möglichkeit, auf | |
schnellem Weg viele Stimmen zu generieren. Anliegen können hier einfacher | |
online beworben werden, sie werden geteilt und verschickt und damit | |
sichtbar. Problematisch wird es aber dann, wenn man versucht, beide Wege – | |
den parlamentarischen und den privaten – zu vermischen. | |
Warum sollte das ein Problem sein? | |
Das Ziel privater Plattformen war lange, an die parlamentarischen Wege | |
angekoppelt zu werden. Aus Gründen der fehlenden Neutralität hat das nicht | |
funktioniert – und das ist meines Erachtens auch richtig. | |
Public-private-Partnerships, wie man sie vom Autobahnbau her kennt, darf | |
man in Bereichen der Demokratiepolitik nur sehr beschränkt einführen. Das | |
Problem ist Folgendes: Wenn Instrumente wie Petitionen an das Parlament | |
angekoppelt sind, gibt es immer die Möglichkeit der Mäßigung durch den | |
parlamentarischen Prozess. In dem Moment aber, wo private | |
Petitionsplattformen auch ein institutionelles Eingriffsrecht besitzen, das | |
heißt, wenn deren Unterschriften exklusiv anerkannt werden, könnten sie | |
Populismus und Unzufriedenheit befördern. | |
Warum sollten die Plattformen ein Interesse daran haben? | |
Die Plattformen wollen und brauchen Traffic auf ihren Seiten. Dafür spricht | |
auch, dass sie Petitionen teilweise aktiv bewerben und Einfluss nehmen: So | |
berät beispielsweise change.org laut eigener Aussage Petitionen direkt, die | |
„Aussicht auf Erfolg, eine mediale Welle und gesellschaftliche und/oder | |
politische Bedeutung“ haben, um erfolgreicher zu werden. Auch openPetition | |
unterstützt einzelne Petent*innen basierend auf deren „Engagement“. Dies | |
geschieht aus dem Bedürfnis hoher Abrufzahlen. Einerseits, um die eigenen | |
Werbepartner zufrieden zu stellen – dabei denke ich besonders an | |
change.org, welches gewinnorientiert agiert. Hier können Petitionen auch | |
finanziell beworben werden. Andererseits verfolgen die privaten Plattformen | |
mehr oder weniger offen bestimmte Ziele. | |
Welche? | |
Kampagnenplattformen wie „Campact“ mit seiner Petitionsseite „WeAct“ zum | |
Beispiel veröffentlichen nur Petitionen, die in deren eigene Philosophie | |
einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft passen. Change.org arbeitet | |
mit dem Portal „Abgeordnetenwatch.de“ und dem Verein „Mehr Demokratie“ | |
zusammen. Hier gibt es ein Interesse an einer Form der direkten Demokratie. | |
Auch openPetition gehört zu einem Teil zu Campact. | |
Das Interesse an einer gerechten Gesellschaft hat doch aber auch der | |
Bundestag? | |
Verstehen Sie mich nicht falsch: Dass die Plattformen so agieren, ist | |
völlig legitim. Sie sind schließlich private und eigenständige Akteure und | |
sollten also solche auch anerkannt werden. Ihre Kompetenzen sollten nur | |
nicht mit den demokratisch-parlamentarischen Wegen zusammengelegt werden. | |
Wie die Plattformen im Detail agieren, sieht man auch an der Art, welche | |
Petitionen aktuell nach vorn gebracht werden. Ein Beispiel: Auf | |
openPetition, das sich recht neutral gibt, gibt es zum Beispiel eine | |
Petition von Impfgegner*innen mit rund 280.000 Unterstützer*innen, die sich | |
gegen Zwangsimpfungen aussprechen. Solche Petitionen laufen auch auf | |
change.org, aber sie werden dort kaum aktiv beworben, denn sie würden dem | |
Image des Unternehmens schaden. Bei Campact und WeAct findet man solche | |
Petitionen wiederum gar nicht, da sie nicht zugelassen würden. | |
Wird durch Petitionen Einzelanliegen eine überhöhte Aufmerksamkeit zuteil? | |
Auch hier geht es um die Betrachtungsweise: Das Petitionsrecht ist sehr | |
alt. Es ist ein traditionelles Recht in der Demokratie. Es spricht nichts | |
dagegen, sich mit einem Einzelanliegen an die Politik zu wenden, und eine | |
Petition muss nicht den Anspruch haben, für „das ganze Volk“ zu gelten. | |
Problematisch kann es aber werden, wenn man glaubt, die Politik könne und | |
müsse die Ansprüche der Bürger*innen direkt umsetzen. Dies steht häufig im | |
Zusammenhang mit der Illusion eines „Bürgerwillens“, den die Politik aus | |
welchen Gründen auch immer nicht umsetzen wolle. Es gibt einen solchen | |
Bürgerwillen aber nicht, stattdessen bewegt man sich auf einem höchst | |
heterogenen Feld aus Einzel- und Gruppenanliegen. Ein solches kann man | |
nicht mit Petitionen begradigen. Wo man das aber versucht, wird es | |
populistisch. | |
Auf parlamentarischer Ebene gibt es zumindest im Bund bereits eine | |
öffentliche Onlineplattform. In den Bundesländern ist das noch sehr | |
verschieden. | |
Tatsächlich war der Petitionsausschuss des Bundestages mit der Einführung | |
der „öffentlichen Petitionen“ 2005 in Deutschland der digitale Vorreiter. | |
Die privaten Plattformen sind dann nachgezogen und haben die Parlamente | |
erfolgreich unter Druck gesetzt. Diese innovative Form der Beteiligung auf | |
Parlamentsebene sollte weiterentwickelt werden. Ein Schritt wäre eine | |
gewisse Vereinheitlichung der Petitionssysteme der Bundesländer, sodass es | |
überall die Möglichkeit öffentlicher Petitionen gibt. Das würde auch den | |
Diskussionen über direkte Demokratie im Bund etwas entgegensetzen. Dazu | |
reicht es meiner Meinung nach aber nicht aus, Petitionen nur im Ausschuss | |
zu besprechen. Ich finde, ab einer gewissen Schwelle, zum Beispiel 100.000 | |
oder 200.000 Unterschriften, könnten Petitionen auch im Plenum des | |
Deutschen Bundestags behandelt werden. Man hat hier ein hervorragendes | |
Instrument, um Bevölkerungsmeinungen wahrzunehmen, das so im | |
parlamentarischen Betrieb eigentlich nicht wirklich vorhanden war. | |
Das würde aber noch keine Verpflichtung bedeuten, sich wirklich mit ihnen | |
auseinanderzusetzen. | |
Für jemanden, der radikaldemokratisch denkt, sind das kleine Schritte. Aber | |
es funktioniert nicht, die Umsetzung einer Petition bei einer bestimmten | |
Stimmenanzahl vorzuschreiben. Am Ende muss das Parlament der Gesetzgeber | |
sein. Denn nur die Parlamentarier*innen können abgewählt werden. Anders als | |
die Bürger*innen, die eine Petition unterschrieben haben. | |
20 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Felix Lorber | |
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