# taz.de -- berlin viral: Schöne Wehmut | |
Noch vor zwei oder drei Wochen, unter der moralisch-kategorischen Knute des | |
#staythefuckathome-Imperativs, war mir beim üblichen | |
Perspektivlos-vor-mich-hin-Sinnieren ab und an der Stoßseufzer entfahren: | |
„Ach wie herrlich wäre es doch, einfach wieder mit ein paar Leuten in einer | |
Bar rumzustehen, sich ein bisschen anzusaufen und einfach dummes Zeug zu | |
reden! Wird es jemals wieder so kommen?“ | |
Ja, es wird, denn die zarte, stille Zeit des ersten Coronaschocks ist | |
vorbei. | |
Wer nicht krank war und sich nur um die eigene Existenz und Zukunft sorgen | |
musste, aber auch kein Bananenbrot backen oder zumindest Husserls | |
Phänomenologie noch mal durchgehen wollte oder gar einen schlimmen, | |
künstlerischen Kreativitätsschub zu bewältigen hatte, der konnte da auf | |
langen Stadtspaziergängen die alten, ausgelatschten, aber nun | |
menschenleeren Kreuzberger Wege ganz neu entdecken. | |
Was lag da noch für eine schöne Wehmut, ähnlich dem süßen | |
Mauerstadt-Weltschmerz längst vergangener Zeiten, über den Straßen! Sogar | |
die Oranienstraße hatte unterm Lockdown ihre ureigene Poesie und den | |
Schmelz der alten Tage wieder entfaltet. | |
Man geht seit Corona überhaupt viel freier durch die Straßen! Der gesenkte | |
Blick der Spaziergängerin ist ja eine nötige, wenn auch unzureichende | |
Strategie, um die ständigen Bewusstseinsschocks in touristifizierten | |
Gegenden zu vermeiden. Doch nun sieht man sich mit neuen, frischen | |
Corona-Augen in den ausgestorbenen Straßen um. | |
Wie verlassen das Orania-Gentri-Hotel doch am Platz liegt – nichts erinnert | |
mehr an den alten Glanz des Eckgebäudes: den kleinen Plus-Markt im | |
Erdgeschoss, an das „Trash“ im ersten, den türkischen Hochzeitssaal im | |
vierten, die Orthopäden im dritten und den Proberaum im Keller. Warum haben | |
wir den damals eigentlich aufgegeben? Ach ja, klar, weil er wochenlang | |
unter Wasser gestanden hatte. | |
„Kann man nix machen!“, hatte der Hausmeister gesagt. „Das kommt von den | |
Bauarbeiten am Potsdamer Platz. Größte Baustelle Europas!“ Brittas | |
Schlagzeug hatte sich von dem Schimmelbefall nie erholt und Jahre später | |
noch den Bandbus vollgestunken. | |
Sogar die Schaufenster sieht man sich wieder an! Den Farbenladen gibt es | |
tatsächlich noch, und in dem Haus war ja die erste Berliner Unterkunft, so | |
um 84 oder 85, und gegenüber standen immer die Jungs von der Endart-Galerie | |
rum. | |
Unter wehmütigen Erinnerungen hundert Meter weiter geschlurft, da stehen | |
vor dem Skaterladen am Heinrichplatz doch tatsächlich zwei der damals | |
jungen Endart-Wilden, nun als ebenfalls gereifte ältere characters, mit | |
drei Flaschen Berliner Kindl bevorratet, freundlich grüßend. | |
Und weil nun eben so viel Platz auf dem Gehweg ist, bleibt man halt stehen | |
und weil es halt eh so langweilig ist und dieses Jahr keine Termine mehr in | |
Sicht sind, redet man zum ersten Mal seit 10 oder 15 Jahren mal wieder ein | |
paar Worte miteinander. Verrückt! | |
Als ich dieses Stimmungsbild meiner romantischen Ortsbegehungen Tage später | |
in geselliger Runde im frisch eröffneten Südblock vortrug, unterbrach mich | |
eine zu dramatischen Appellen neigende Freundin: Jedes zweite Geschäft, | |
jeder zweite Laden müsse coronabedingt in Berlin zumachen! Alle machten | |
pflichtbewusst ein besorgtes Gesicht, und so behielt ich den naheliegenden | |
Gedanken „Das wäre ja gar nicht so schlecht, wenn’s die Richtigen trifft“ | |
für mich. | |
„Ja, ja, eh klar“, sagte ich. „Die Touristen müssen wiederkommen, es muss | |
wieder so voll werden wie vorher, Berlin hat ja sonst nix und so weiter und | |
so fort. Ich weiß.“ | |
Aber es wäre schon schön, wenn es noch eine Weile dauern würde. | |
Christiane Rösinger | |
9 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Christiane Rösinger | |
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