# taz.de -- Graffiti in der Lagerhalle | |
> ORTSTERMIN Der Londoner Stadtteil Hackney Wick ist für Künstler ein | |
> Eldorado. Fragt sich nur, wie lange noch | |
AUS LONDON OLIVER POHLISCH UND FRANCESCA WEBER-NEWTH | |
Ununterbrochen kreisen Helikopter über Hackney Wick, nur einen Steinwurf | |
vom Olympiapark entfernt. Der Lärm dringt in die Lagerhalle. „Wenn’s der | |
Sicherheit der Spiele dienen würde, wäre es ja okay für mich“, sagt Raymond | |
Salvatore Harmon. Der aus Detroit stammende Künstler hat die Halle für | |
vierzehn Tage gemietet, um hier seine Graffiti-Arbeiten zu zeigen. Beamte | |
auf Streife schauen täglich rein. Die haben Harmon aber darüber aufgeklärt, | |
dass die Polizei nur einen Hubschrauber im Einsatz hat. Den übrigen | |
Flugverkehr würde der US-TV-Sender NBC verursachen, der sein Personal zum | |
nahen Internationalen Medienzentrum transportiert. | |
Fernsehleute am Himmel, Presse am Boden. Über mangelndes Interesse an | |
seiner Kunst, die sich in fröhlichen Farben und verspielten Mustern über | |
die Wände der Halle ausbreitet, kann sich Harmon nicht beklagen. Natürlich | |
hätten gleich Modefotografen vorbeigeschaut, gierig nach neuen | |
Hintergründen für Shootings. An die richte sich sein Projekt aber nicht, so | |
Harmon. Er wolle die Halle in der Zeit der Spiele für die Nachbarn öffnen | |
und mit der Verlagerung seiner Arbeit in den Innenraum auf die | |
Säuberungswut der Behörden verweisen. | |
Im Vorfeld von Olympia gingen diese rabiat gegen die Graffiti an Hackney | |
Wicks Brücken, Mauern und Wänden vor. Auch Werke von Banksy verschwanden. | |
Hausbesitzer wurden angehalten, Graffiti selbst zu überstreichen. Die bis | |
vor Kurzem knallbunt besprühte Fassade des ehemaligen Pub Lord Napier | |
leuchtet nun Magnoliaweiß. | |
Hackney Wick, ein Konglomerat aus sozialem Wohnungsbau und Werksgelände, | |
gilt nicht nur als Londons Graffiti-Showcase, sondern als Ort mit der | |
angeblich höchsten Konzentration von Künstlern in ganz Europa. Seit Anfang | |
2000 sind sie in diese bis dahin vergessene Ecke der Metropole geströmt. | |
Der Prozess folgt einem alten Muster: Planungskonzepte wollen „altes, | |
schmutziges“ Gewerbe aus innenstadtnahen Lagen langfristig verbannen. | |
Betriebe schließen oder ziehen weiter raus. Ihre Liegenschaften werden an | |
Kreative vermietet, die billige Räume zum Wohnen und Arbeiten suchen und | |
dem rauen Charme der postindustriellen Landschaft erliegen. | |
Von der Umgebung durch Autobahn und Lea-Navigation-Kanal abgetrennt, hat | |
Hackney Wick reichlich Fläche zum Austoben geboten. Rave-Partys wurden | |
gefeiert, lange gab es sonntags einen informellen Flohmarkt. Das jährliche | |
Hackney-WickeED-Festival wirbt für die Arbeit der lokalen Künstlerkolonie. | |
Doch gerade, weil diese Kolonie Hackney Wick attraktiv gemacht hat, | |
existiert sie nur noch auf Abruf. Investoren werden kommen, Mietverträge | |
auslaufen lassen, die alten Fabrikgebäude abreißen und mehrstöckige | |
Apartmentblocks hochziehen. An einigen Stellen ist das schon geschehen. | |
Das See Studio in Hackney Wick ist wie alle Galerien Londons am ersten | |
Donnerstag jedes Monats auch abends geöffnet. Gezeigt wird Fotokunst, die | |
sich kritisch mit der Olympia-Regeneration des Londoner Ostens | |
auseinandersetzt. Viele Bilder dokumentieren, was nur wenige Meter | |
entfernt, auf der anderen Seite des Kanals den Sportarenen Platz machen | |
musste. Die Galerie ist gut besucht. Solch ein Anlass überbrückt die Lücke, | |
die das Hackney-WickED-Festival hinterlassen hat, das wegen der Spiele | |
dieses Jahr nicht stattfinden darf. Die Ankunft des Mega-Events in der | |
Nachbarschaft beschleunigt die Transformation von Hackney Wick. In kurzer | |
Zeit ist viel Geld in die Verbesserung seiner Infrastruktur geflossen. | |
Beim entspannten Smalltalk stehen die Galeriegäste auf einem kurzen | |
Straßenabschnitt, der für Autos gesperrt wurde. Diese Verschönerung des | |
öffentlichen Raums hat hier einen kreativen Twist. Die Intervention heißt | |
offiziell „Street Interrupted“ und wurde von muf, einem Designerteam, | |
geplant, das um die Ecke sein Büro hat. Den neu gepflanzten Baum in der | |
Mitte der Straße hat es extra aus Deutschland kommen lassen. | |
„Hackney Wick ist tot“, sagen nicht wenige Künstler, denen die Aufhübschu… | |
zu viel des Guten ist, die mit den Mietsteigerungen nicht mehr mithalten | |
können. Schon zieht die Karawane weiter nach Nordosten, nach Leyton oder | |
Walthamstow. | |
Doch es gibt auch andere Stimmen. Francis Vissers, mit Rastalocken und | |
Zigarette im Mund, bezeichnet sich als Maler, Bildhauer und Rapper. Er | |
behauptet, der erste Künstler in Hackney Wick gewesen zu sein. 1994 bekam | |
er hier eine Sozialwohnung zugewiesen. Den Olympischen Spielen kann er | |
nichts abgewinnen. „Das ist Verschwendung von Steuergeldern. Und ich kann | |
mir die Tickets nicht leisten, dabei sollten die Einwohner von Hackney Wick | |
freien Eintritt in den Olympiapark erhalten.“ Außerdem hätten die Spiele | |
dafür gesorgt, dass die Cafés der Gegend leer bleiben. Doch generell freut | |
den 45-Jährigen, dass in den letzten Jahren nettere Leute nach Hackney Wick | |
gekommen sind, weniger Kriminalität herrsche, dass die Gegend sauberer | |
geworden sei. | |
Raymond Harmon glaubt, dass Hackney Wick nach dem Ende der Spiele, sobald | |
Polizei und Sicherheitsleute abgezogen worden sind, wieder zu seiner | |
Normalität zurückfindet. „Die Bestellungen für Spraydosen werden rasant | |
ansteigen“, ist er sich sicher. Die Lord-Napier-Fassade wird nicht lange | |
weiß bleiben. | |
10 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
OLIVER POHLISCH / FRANCESCA WEBER-NEWTH | |
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