# taz.de -- Familie ist, wo Freundschaft ist | |
> Schon lange gilt die klassische Kern- und Kleinfamilie nicht mehr als | |
> allein selig machend. Nunmehr sind die Alternativen im Alltag angekommen, | |
> so wie bei der pansexuellen Saskia und dem schwulen Chris, die sich im | |
> Co-Parenting versuchen wollen | |
Von Simon Schwarz (Texte) und Xueh Magrini Troll (Illustrationen) | |
Chris ist schwul und non-binary, Saskia eine pansexuelle Frau. Was 2016 | |
zwischen ihnen bei einem Barabend als Gedankenspiel anfing, wurde im Jahr | |
darauf zu einer Beziehung mit Kinderwunsch. | |
Für Chris gibt es nicht die eine, sondern Hundert verschiedene Arten von | |
Liebe. Manchmal knutschen er und Saskia, halten Händchen miteinander. Mit | |
körperlicher Liebe habe das nichts zu tun. „Wir haben eine tiefe | |
Verbundenheit und verbringen einfach unheimlich gern Zeit zusammen“, sagt | |
Saskia. Nun versuchen sie, mit der sogenannten Bechermethode schwanger zu | |
werden: Hat Saskia ihre fruchtbaren Tage, kommt Chris zu ihr und | |
masturbiert im Badezimmer in einen Becher. Den hält Saskia zunächst fünf | |
Minuten zwischen ihren Beinen warm und spritzt sich das Sperma anschließend | |
in ihre Vagina. Dann bleibt sie eine halbe Stunde auf dem Sofa und streckt | |
Beine und Po nach oben, weil das die Wahrscheinlichkeit erhöhen soll. | |
Danach: warten und hoffen. | |
Hat es dann irgendwann geklappt, sind Chris und Saskia Co-Eltern. So nennt | |
sich die Beziehungsform von Menschen, die ein Kind ohne romantische | |
Liebesbeziehung in die Welt setzen. „Das ist eine familiäre Bindung“, sagt | |
die Ärztin Christine Wagner. Vor neun Jahren hat sie mit ihrer damaligen | |
Partnerin Familyship gegründet, ein Netzwerk, über das sich Menschen | |
kennenlernen können, die auf freundschaftlicher Basis eine Familie gründen | |
wollen. Wagner lebt selbst in solch einem Familienmodell mit ihrer | |
sechsjährigen Tochter und dem homosexuellen Vater. Es sei schwer, das auf | |
einen Begriff zu bringen: „Ich sage immer, dass er der Vater meiner Tochter | |
ist.“ | |
Co-Elternschaft ist nicht gleich Co-Elternschaft. Es gibt eine Vielzahl von | |
Möglichkeiten, wie sich Menschen in Familien organisieren: ob lesbische | |
Paare, die einen Samenspender suchen; Paare, bei denen nur eine Person ein | |
Kind möchte; die Singlefrau, die Angst hat, dass ihre biologische Uhr | |
abläuft; oder schwule Pärchen, die sich ein leibliches Kind wünschen, ohne | |
den umstrittenen Umweg einer Leihmutterschaft im Ausland zu gehen. Jede | |
Konstellation ist denkbar. | |
Für Saskia wäre eine Plattform wie Familyship, auf der sie den künftigen | |
Vater ihres Kindes findet, jedoch nichts. Sie braucht jemanden, dem sie | |
vertraut und der die gleichen Werte teilt. Saskia sagt, mit den beiden | |
passe es deshalb so gut, weil ihr Weltoffenheit, Vielfalt, Akzeptanz und | |
LGBTQ-Rechte genauso wichtig seien wie Chris. | |
2018 haben sie einen ersten Versuch gestartet und sind zusammen in eine | |
Wohnung gezogen. In getrennten Zimmern schlafen, aber gemeinsam leben. | |
„Jeder hatte seine eigenen Freiräume“, sagt Saskia. Doch so richtig | |
funktionieren wollte es damals nicht. Unterschiedliche Vorstellungen von | |
Hygiene führten schließlich dazu, dass Saskia ausgezogen ist. Chris nennt | |
sich selbst einen „krass freiheitsliebenden Menschen“. Und die Freiräume | |
waren am Ende nicht frei genug. Chris hat besonders gestört, dass sie im | |
Alltag in normative Muster gerutscht sind. Davor hatte er sich am meisten | |
gefürchtet. | |
Co-Parenting erinnert an eine klassische Mehrgenerationenfamilie. Doch | |
während bei dieser üblicherweise Großeltern und andere Verwandte den Eltern | |
unter die Arme greifen, suchen sich Chris und Saskia selbst aus, wer zu | |
ihrer Familie gehört. Biologie soll keine Rolle spielen. Saskia möchte das | |
Kind außerdem möglichst geschlechtsneutral aufziehen und auf | |
„Pink-rosa-Geschichten“ verzichten. „In der Erziehung ist mir aber | |
wichtiger, dass ich das Kind nicht anschreie, als das richtige Pronomen zu | |
benutzen“, sagt sie. | |
Momentan leben Chris und Saskia nicht zusammen. Langfristig zu zweit in | |
einer Wohnung auszukommen käme nach ihrem Streit sowieso nicht mehr | |
infrage. Allerdings planen sie, mit drei Freund*innen, die auch Kinder | |
möchten, ein Haus zu kaufen. Es sollte im Grüngürtel liegen, einen Garten | |
und drei bis vier abgetrennte Wohnungen haben. Ziemlich spießig auf den | |
ersten Blick. Aber Chris ist sich sicher: „Ich glaube schon, dass wir das | |
normative Modell aufbrechen. Dadurch, wie wir dieses Haus beleben.“ Doch | |
wem vertrauen die Kinder? Wer hat das letzte Wort? Und wird Biologie in | |
dieser Familie wirklich keine Rolle spielen? | |
Das können Chris und Saskia natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Vieles | |
müsse man auf sich zukommen lassen. Das sieht auch die Ärztin Christine | |
Wagner so: „Das geht überhaupt nicht, weil man sich nicht vorstellen kann, | |
wie es ist, ein Kind zu haben. Was zählt, ist, dass die Erwachsenen sich | |
verstehen.“ Trotzdem glaubt die Expertin, dass sich eher Hierarchien | |
herausbilden, wenn mehr Menschen aufeinandertreffen. „Je mehr Leute | |
dazukommen, desto komplexer wird es“, sagt auch Saskia. | |
Obwohl vieles unklar bleibt, bis es so weit ist, sind die beiden vom | |
Co-Parenting überzeugt. „Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder | |
großzuziehen“, sagt Saskia. Sie sieht in dem Familienmodell den Vorteil, | |
dass sich alle gegenseitig unterstützen. Das bestätigt Christine Wagner: | |
„Freiräume hat man wirklich. Wenn das Kind bei dem anderen Elternteil ist, | |
muss ich mir keine Gedanken machen. Ich vertraue da einfach zu hundert | |
Prozent.“ | |
Sogar die Ehe ist bei Saskia und Chris mittlerweile im Gespräch. Der Steuer | |
wegen, beteuert Saskia. „Wenn wir verheiratet wären, hätte das automatisch | |
finanzielle Vorteile. Und wenn einem von uns etwas passiert, ist das Kind | |
abgesichert.“ | |
Ein ganz anderes Problem erwartet Saskia, Chris und die anderen | |
Beteiligten, wenn sie ihre Kinder tatsächlich zu fünft großziehen. Der | |
Bundestag hat 2017 zwar die Ehe für alle beschlossen. Weiterhin werden | |
homosexuelle Ehepaare jedoch rechtlich benachteiligt. Bei Heteropaaren | |
erkennt das Gesetz den Mann automatisch als Vater an. Bei lesbischen Paaren | |
muss die Ehefrau, die nicht Mutter des Kindes ist, den Elternstatus per | |
Stiefkindadoption erwirken. Zu zweit sind Saskia und Chris in einer | |
komfortablen Lage, auch ohne Ehestand. In Deutschland gelten nur zwei | |
Menschen offiziell als Eltern. Selbst wenn Saskia und Chris es wollten, | |
sind die anderen mit ihnen nicht gleichgestellt. | |
Christine Wagner hofft aus diesem Grund auf eine Liberalisierung. Sie | |
plädiert für Hauptsorgerechte und Nebensorgerechte, um Familien mit mehr | |
als zwei Erziehenden zu berücksichtigen: „Ich würde mir wünschen, dass | |
jeder Mensch und jede Frau, die schwanger ist, mit ihrem Partner, ihrer | |
Partnerin oder allein zum Jugendamt geht und dort klärt, wie die | |
Verhältnisse sind.“ Auch in Heterofamilien gebe es heutzutage „ganz schön | |
viel Patchwork.“ Nicht immer ist der Ehemann automatisch der Vater des | |
Kindes. Gleichzeitig findet die Expertin, dass es höchstens zwei | |
Hauptansprechpartner*innen geben sollte. | |
Für Saskia würden sich solche Vereinbarungen im Moment noch zu offiziell | |
anfühlen: „Ich fände es total seltsam, schriftliche Vereinbarungen zu | |
treffen. Aber ich denke, es müsste schon geklärt werden, wer entscheidet, | |
wenn es hart auf hart kommt.“ Auch für Chris ist die Basis ihrer | |
Co-Elternschaft Vertrauen. „Wir erzählen uns alles“, sagt er. Andere | |
Liebespartner*innen sind für die beiden deshalb auch kein Problem. | |
Ein bisschen Zeit, all das zu klären, bleibt ihnen noch. Bislang haben | |
Saskia und Chris mit der Bechermethode nämlich keinen Erfolg gehabt. Ein | |
Haus haben sie ebenfalls noch nicht gefunden. Ob ihnen der Spagat zwischen | |
Kindererziehung in einer patriarchalen Gesellschaft und Familienleben im | |
queeren Regenbogenhaus gelingt, weiß keine*r der beiden so genau. Für | |
Saskia und Chris überwiegen jedoch die Vorteile des Co-Parentings. Offen | |
und ehrlich wollen sie kommunizieren. Das könnte auch etwas für | |
Heterofamilien sein. | |
16 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Simon Schwarz | |
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