# taz.de -- Repressionen gegen Grup Yorum: İbrahim Gökçek beendet Hungerstre… | |
> Nach 323 Tagen hat der Grup Yorum-Bassist seinen Hungerstreik beendet. | |
> Mit dem Hungerstreik hatten Bandmitglieder für ein Ende des | |
> Auftrittsverbots gekämpft. | |
Bild: Grup Yorum-Konzert in Ankara, Oktober 2013 | |
Der Musiker İbrahim Gökçek hat nach knapp einem Jahr den Hungerstreik | |
beendet, mit dem er für ein Ende der Repressionen gegen seine | |
Protestmusik-Gruppe Grup Yorum kämpfte. Dies verkündeten am Dienstag | |
mehrere Bandmitglieder von Grup Yorum, die gemeinsam mit den | |
CHP-Abgeordneten Ali Şeker und Hüda Kaya (HDP) sowie den | |
Menschenrechtsorganisationen IHD und TIHV an die Presse traten. Zuletzt | |
hatte es ein hohes öffentliches Interesse daran gegeben, den Tod von | |
İbrahim Gökçek zu verhindern, nachdem die Grup Yorum-Sängerin Helin Bölek | |
Anfang April nach 288 Tagen Hungerstreik ihr Leben verloren hatte. Ihr | |
Bandkollege Gökçek hielt bei ihrer Beerdigung vom Rollstuhl aus und mit | |
kaum noch vernehmbarer Stimme eine Trauerrede. | |
Gökçek beendete die Nahrungsverweigerung nach 323 Tagen. Derzeit wird er | |
auf der Intensivstation eines Istanbuler Krankenhauses behandelt und | |
schwebt nach Angaben seiner Bandkolleg*innen in Lebensgefahr. Die | |
“Anwält*innen des Volkes“ (Halkın Hukuk Bürosu), die Gökçek vertreten, | |
richteten zur Umsetzung seiner Forderungen nach Haftentlassung der | |
inhaftierten Bandmitglieder und Aufhebung des Auftrittsverbotes gegen Grup | |
Yorum erneut ein Schreiben an den Gouverneur der Provinz Istanbul. | |
Am Dienstag verkündete Grup Yorum, die Gespräche zwischen den Abgeordneten | |
und dem Gouverneursamt ließen darauf hoffen, dass Politik und | |
Zivilgesellschaft sich der Anliegen der Gruppe angenommen hätten. Unter | |
ihrer Vermittlung seien vier öffentliche Auftritte für die Gruppe | |
angemeldet worden. Daraufhin setzte Gökçek seinen Hungerstreik bis auf | |
Weiteres aus. | |
Seine Ehepartnerin Sultan Gökçek sowie weitere Mitglieder der Gruppe | |
befinden sich trotz einer Corona-bedingten Amnestie derzeit weiterhin in | |
Haft. Als Beweismittel in dem Terrorverfahren gegen sie wurden von der | |
Staatsanwaltschaft nur ein auf dem Markt frei erhältliches Album der Gruppe | |
sowie nicht verifizierbare Denunziationen anonymer Zeugen vorgelegt. Auch | |
dagegen richtete sich der Hungerstreik von Bölek und Gökçek. | |
Rechtsanwältin Didem Ünsal Bayar sagte gegenüber taz.gazete, mit dem | |
Beschluss des Gouverneursamts sei der Anfang der Auftrittsfreiheit für die | |
Gruppe erreicht, die erkämpft werden sollte. “Leider konnten wir Helin | |
Bölek nicht retten“, sagte sie. “Aber ihre Forderungen wurden von | |
Abgeordneten, Künstler*innen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens | |
übernommen, so dass wir gemeinsam sicherstellen konnten, dass İbrahim | |
Gökçek überlebt.“Es komme jetzt darauf an, sicherzustellen, dass Konzerte | |
der Gruppe auch tatsächlich stattfinden können und die nicht rechtmäßig | |
inhaftierten Mitglieder des Protestmusik-Kollektivs freikommen. | |
## Hungerstreikende stellten fünf Forderungen | |
İbrahim Gökçek war zunächst im Februar 2019 von der Polizei bei einer | |
Durchsuchung des mit dem Kollektiv verbundenen Kulturzentrums İdil | |
festgenommen und der Mitgliedschaft in der verbotenen DHKP-C bezichtigt | |
worden. Am 18. Juni 2019 begann er in der Haftanstalt Silivri einen | |
Hungerstreik. Am 3. Februar 2020 gab er bekannt, dass er keine Nahrung mehr | |
zu sich nehme, bis er sterbe. Bei einer Verhandlung am 14. Februar sagte | |
Gökçek, er habe nichts verbrochen als Lieder zu singen. Er sei bereit, für | |
das Recht auf Kunstfreiheit zu sterben, obwohl er viel lieber in Freiheit | |
Gitarre spielen würde. Am 24. Februar wurde er aufgrund einer ärztlich | |
bescheinigten Haftunfähigkeit aus Silivri in den Hausarrest entlassen, | |
entschloss sich aber, den Hungerstreik von dort aus weiterzuführen. | |
Insgesamt stellten die Hungerstreikenden fünf Forderungen. Sie forderten | |
das Innenministerium auf, die im Ausland lebenden Bandmitglieder von der | |
Liste der per Haftbefehl gesuchten Personen zu entfernen und das vor drei | |
Jahren pauschal ausgesprochene Auftrittsverbot gegen die Gruppe | |
zurückzunehmen. Darüber hinaus forderten sie ein Ende der regelmäßigen | |
Schikanierung durch polizeiliche Durchsuchungen des İdil-Kulturzentrums, wo | |
das Kollektiv probt und produziert. An die Justiz gerichtet forderten sie | |
eine Einstellung der Terror-Verfahren gegen die Bandmitglieder und | |
Haftentlassung für alle von diesen Verfahren betroffenen Musiker*innen. | |
In den fast 35 Jahren ihres Bestehens wechselten die Grup | |
Yorum-Bandmitglieder immer wieder. So haben sich drei Generationen | |
herausgebildet: die erste Mitte der 1980er Jahre, die zweite in den 1990ern | |
und schließlich die dritte, die in ihren Liedern die politische Situation | |
in den 2000ern und danach thematisiert. Zum 25-jährigen Jubiläum gab Grup | |
Yorum 2010 vor 50.000 Menschen ein Konzert im Istanbuler İnönü Stadion. Die | |
Musiker*innen traten in Deutschland, Frankreich und England auf. Und genau | |
wie sie überall Anhänger*innen haben, verfolgen die Verbote sie auch | |
überall hin. | |
Durch den Tod der Sängerin Helin Bölek am 3. April war die Problematik | |
verstärkt auf die Tagesordnung oppositioneller Abgeordneter von HDP und CHP | |
geraten. Gemeinsam mit den Menschenrechtsorganisationen IHD und TIHV | |
wandten sich Abgeordnete an die betreffenden Ministerien, konzentrierten | |
sich aber auf das Auftrittsverbot, das im Ermessen der Behörden steht. Ein | |
Gouverneursamt kann jederzeit Konzertauftritte erlauben, ohne | |
Sicherheitsbedenken geltend zu machen. Bisherige Verbote stützten sich auf | |
eine rechtlich unklare Weisungslage durch Innenminister Süleyman Soylu. Die | |
HDP-Abgeordnete Hüda Kaya sagte gegenüber taz.gazete, ihre Partei werde | |
sich weiterhin dafür einsetzen, dass die Gruppe ohne Einschränkungen | |
auftreten darf. | |
Die Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV, Şebnem Korur | |
Fincancı, bezeichnete Gökçeks Entscheidung als ermutigend. Es sei nun an | |
der Zivilgesellschaft, eine Umgebung zu schaffen, in der Meinungs- und | |
Kunstfreiheit als Grundrechte gewahrt werden und die Gruppe ohne | |
Einschränkungen ihre Lieder aufführen könne. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
5 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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