# taz.de -- Menschen auf einem erschöpften Schiff | |
> Der Hamburger Stadtteil St. Pauli ist ein Brennglas: Auch in Zeiten des | |
> Abstands wird hier eng zusammengelebt. Aber in manchen Existenzen wird es | |
> inzwischen dunkler | |
Bild: Keine Arbeit für den Stadtführer: geschlossenes Restaurant auf St. Pauli | |
Von Simone Buchholz | |
St. Pauli lebt von dem, was nicht mehr sein darf – Bühnenkunst, lebendige | |
Gastronomie, Tourismus, Protest, blühende Kultur, Superheldentum, Comic | |
Life. Nach gut fünf Wochen Shutdown hat sich dieses Leben grundlegend | |
verändert. Es ist stiller geworden, trauriger, die ach so stabile Seele des | |
Hamburger Stadtteils, in dem alle immer ganz nah beieinander sitzen und | |
sich gegenseitig anfassen, hat ein paar tiefe Kratzer abbekommen, das | |
Gefüge bricht auseinander. Gleichzeitig schlägt das Herz kraftvoller denn | |
je, wenn auch ein bisschen langsamer. Es ist erschöpft vom vielen Hoffen. | |
Aber der Reihe nach. | |
Wenn ich dieser Tage durchs Viertel gehe, sehe ich immer noch viele schöne | |
Momente. Nachbarschaft, die füreinander da ist. Kleine Cafés und | |
Restaurants, die fröhlich außer Haus verkaufen, aber davor stehen keine | |
Menschentrauben, alle verteilen sich, so gut es in den engen Straßen geht. | |
Im Supermarkt wird mit den Augen gelächelt, was das Zeug hält, und von der | |
Käsetheke bis zur Kasse werden herrlich blöde Witze gemacht. | |
Die Obdachlosen bekommen immer noch Geld, auch von denen, die selbst nicht | |
viel haben, einfach weil sich das so gehört. Vorher immer noch ein kurzer | |
Schnack. | |
Viele Leute reden sehr viel miteinander, und die Frage „Wie geht’s dir?“ | |
ist ernstgemeint, sie wird schnell nachgeschoben, falls sie doch mal | |
vergessen wurde, und dann hört man sich gegenseitig zu. Vor dem | |
alteingesessenen Restaurant in der Nähe des St. Pauli Theaters hatten die | |
Besitzer neulich einen Tisch vor die Tür gestellt, mit weißer Tischdecke, | |
vier Gläsern Wein und vier Tellern Essen. Am Tisch saßen vier Leute, an | |
jeder Seite ein Mensch. Genau genommen streng verboten. Dann fuhr eine | |
Polizeistreife durch. Oh. Schwierig. Hm. | |
Fenster runter, den Tisch anschauen. | |
„Sieht ja gut aus, Leute, lasst es euch schmecken.“ | |
Allumfassendes Winken, Lächeln, danke. | |
Überhaupt, man muss es so sagen: die Polizei. Zwei bürgernahe Beamte, die | |
mit drei Frauen – alle auf mindestens zwei Meter Abstand – zusammenstehen | |
und reden, über dies und das. Dann der Einwurf einer Frau aus der Gruppe: | |
„Jungs, das ist jetzt aber schon eine Versammlung, oder?“ | |
„Ach, Quatsch, wir reden doch nur, das passt schon.“ | |
Der eine sagte, sie seien zurzeit mehr Sozialarbeiter als Polizisten, | |
klingeln bei alten Menschen, um sie auf einen Schnack ans Fenster zu holen. | |
Solche Sachen. | |
Oder die Masken, hihi. Okay, halb St. Pauli sucht nach einer Möglichkeit, | |
irgendwie durch die Dinger zu rauchen, aber sie sind vollständig akzeptiert | |
und gehören jetzt zum Stadtbild. Weil man hier ja eh schon immer aussehen | |
durfte, wie man wollte. Und weil den Schneidern und kleinen Läden das Zeug | |
verdammt noch mal abgekauft werden muss, sie strengen sich doch alle so an, | |
den Kram zu basteln. | |
Es ist die Solidarität, die das Leben weiter zusammenhält, der Gedanke, | |
dass gerade in einem Hafenviertel alle in einem einzigen großen Schiff | |
sitzen. | |
Aber da ist auch die Trauer. Der Stadtführer mit zwei Kindern, der weiß, | |
dass er dieses Jahr nicht mehr wird arbeiten können. Die beiden | |
alleinerziehenden Mütter mit dem einstmals florierenden Restaurant. Das | |
Kollektiv aus St. Paulianerinnen, das sich im letzten Jahr verschuldet hat, | |
um eine Eckkneipe zu retten. Die Sexarbeiterinnen. Und all die Mütter, die | |
tagsüber ihre Kinder beschulen und betreuen und nachts arbeiten und nicht | |
mehr können. Die Frühlingsdebütant*innen in allen Künsten. Ich kann jetzt | |
gar nicht alle aufzählen, sonst kommen mir die Tränen, denn sie alle | |
vollbringen gerade Großes, indem sie helfen, die Reproduktionszahl eines | |
potenziell tödlichen Virus unter eins zu halten. | |
Dieser Stadtteil ist ein Brennglas unserer Gesellschaft. Hier leben sehr | |
viele Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen auf engem Raum | |
zusammen, alle Schichten, alle Generationen, alle Geschlechter. (Fun Fact: | |
Hier findet sogar die Waffenindustrie statt.) Das Einzige, was es auf St. | |
Pauli nicht gibt: die Autoindustrie. Dafür aber Menschen, Menschen, | |
Menschen (denen man zumindest mit einer autofreien Innenstadt mal ein | |
bisschen mehr Raum geben könnte). Sie sehnen sich nach Hoffnung. Nach Ideen | |
und klugen Konzepten, wie es für sie weitergehen kann. Nach einem Zeichen, | |
das ihnen sagt: Wir denken an euch. Macht ein warmes Licht an für die | |
Kinder, die Eltern, die Alten, die Freiberufler*innen und | |
Künstler*innen, die Kassierer*innen, die Taxifahrer*innen, die | |
Bühnenarbeiter*innen, die Gastronom*innen, die Filmschaffenden, das | |
medizinische Personal, die Superheld*innen (manchmal nachts höre ich noch | |
jemanden fliegen, flapp, flapp, mit letzter Kraft). | |
Noch sind sie alle da. | |
Aber in manchen Seelen und Existenzen wird es Stück für Stück dunkler. Das | |
Licht droht zu erlöschen. | |
Die Autorinlebt als Schriftstellerin auf St. Pauli. Zuletzt erschien der | |
Kriminalroman „Hotel Cartagena“ (Suhrkamp Verlag). Am 24. März schrieb sie | |
zum ersten Mal über St. Pauli unter Corona in der taz. | |
9 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Simone Buchholz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |