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# taz.de -- Taxonomie der Unordnung
> Das „Wörterbuch der Gegenwart“ kartografiert künstlerisch und theoretis…
> unsere Zeit
Bild: So wurde der riesige Moby Dick in einer New Yorker Ausgabe von 1851 darge…
Von Miryam Schellbach
Vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert, als die Welt in ihren Konturen der
Wahrnehmung nach weiter wuchs, Erzählungen von anderen Ländern, Tieren und
Religionen in geordnete Verhältnisse einbrachen, war die Zeit der
Wörterbücher. Abertausende von Glossarien und Dictionarien entstanden. Sie
sollten die Weltordnung wieder zusammenschrumpfen lassen, sprachliche und
normative Bestände sichern, Weltwissen konservieren.
Mit jedem Anlauf zu einer solchen Erfassung der Gegenwart geht eine
Ideologie einher. Zu einer Zeit, als es kein Deutschland, aber Kleinstaaten
gab, verpflichteten die Brüder Grimm Leser ihres „Wörterbuchs der deutschen
Sprache“ darauf, das Deutsche als nationalen Schatz anzuerkennen und also
überhaupt ein Nationalgefühl zu entwickeln.
Schon 1751 sollte Denis Diderots „Encyclopédie“ den Wissensbestand der Welt
erfassen, um das Licht der Aufklärung vollends über Frankreich auszugießen
und der katholischen Kirche die normgebende Hegemonie zu nehmen. Aus
heutiger Perspektive hat die „Encyclopédie“ wenig eindeutig Progressives zu
verbuchen. Viele ihrer Lemmata, „Sodomie“ als Beispiel, sind zur
Beschreibung der Gegenwart irrelevant geworden. Wörterbüchern wohnt
unweigerlich eine Grenzziehung inne: Sie hierarchisieren zwischen
Wissenswertem und Wissensunwertem und legen einen Diskurs für die
gesellschaftliche Mitte fest. Deshalb kann die Analyse von Wörterbüchern
dabei helfen, von Begriffen etwas über das kollektive Wissen vergangener
und heutiger Gesellschaften zu lernen. Auf diesem theoretischen Fundament
steht ein neues „Wörterbuch der Gegenwart“. Es basiert auf den Beiträgen
einer mehrjährigen Veranstaltungsreihe zur Gegenwartserfassung im Berliner
Haus der Kulturen der Welt. Ziel ist nicht die distanzierte Erklärung eines
Begriffs. Es geht darum, zu zeigen, wie verwoben Welt und Wörter
miteinander sind.
Ein ideologiefreies Wörterbuch also? Oder eines, das Ideologie sichtbar
macht? Anhand von Beiträgen zu konkreten Begriffen wie „Tier“ oder „Mark…
aber auch zu Abstrakta wie „Angst“ und „Wahrheit“ soll das „Wörterbu…
Gegenwart kartografieren. Ausgangspunkt ist, dass Wörter, in moralische
Kontexte und politische Praxen eingebunden, Referenzpunkte darstellen und
permanent erzeugen, was sie beschreiben sollen. Dieses Dilemma wird im
„Wörterbuch“ produktiv in ein Potenzial verkehrt. Warum nicht zeigen, auf
welche Weisen Konzeptionen von „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ unsere We…
formen?
Das Wörterbuch beschränkt sich nicht auf sprachwissenschaftliche oder
philosophische Ansätze. Die Begriffe werden in einem gleichrangigen
Nebeneinander von bekannten Künstlern ästhetisch und von Wissenschaftlern
theoretisch umkreist. Bernd Scherer, Mitherausgeber der enzyklopädischen
Erfassung, wünscht sich eine Erkenntnis im Prozess aktiver Rekonstruktion.
Ziel ist es, „den eigenen Standpunkt immer wieder von Neuem zu bestimmen“.
Was, um ein Beispiel zu geben, bedeutet „Angst“ heute, welche
gesellschaftliche Funktion erfüllt sie? Mit Beiträgen von Sinan Antoon, Ed
Atkins, Joseph Vogl und Burkhardt Wolf, Sören Kierkegaard, Allen Feldman
und Herman Melville wird das Lemma mit literarischen, künstlerischen,
philosophischen und sozialwissenschaftlichen Positionen umstellt.
Die Bildstrecke „Skins“ des Medienkünstlers Atkins zeigt tote Haut und
Blutkörper in mikroskopischer Vergrößerung und grellen Farben. Sie deutet
an, dass Angst auch die vage Vermutung sein kann, dass hinter jeder
Realitätsvorstellung eine deformierte und abgründige Rückseite lauert. In
ihrem theoretischen Beitrag fokussieren Vogl und Wolf die objektlose,
atmosphärische Angst, die sie als konstitutives Nebengeräusch aktueller
Risikogesellschaften verstehen. Eine Angst, die sich gegen abstrakte
Gruppen richtet und die den Nährboden für eine Politikstrategie der
Prävention bildet: „Diese Präventionslogik, der die prinzipiell
unerschöpfliche Möglichkeit zukünftiger Gefahren zugrunde liegt, bildet die
Grundlage zur Entwicklung eines allumfassenden Kolonialstaates.“
In „Monstrum arabicum“ führt Antoon ein Beispiel für die Gerichtetheit
einer politisierbaren Angst ausgehend von den Terroranschlägen des 11.
September 2001 auf. Seitdem wurde die arabische Sprache, die eben auch
Sprache der Täter war, und mit ihr ein monolithisch verstandener Islam zum
Gegenstand eines forensischen Interesses.
Besonders im literarischen Feld kann Angst auf eine Weise beschrieben
werden, dass ein Gefühl sich über Buchstaben hinweg auf die Schultern des
Lesers legt. Das zeigt ein ergänzender Ausschnitt aus Melvilles „Moby
Dick“. In „Die Weiße des Wals“ wird eine Farbe zur Chiffre für den
abgründigen und unvorhergesehenen Schrecken, für die allmähliche
Ich-Auflösung, die Kapitän Ahab im Kampf mit dem Wal erlebt, und auch für
den Verlust der Kontrolle über Kausalitäten.
Dass auch literarischen Texten im „Wörterbuch“ die Relevanz zugesprochen
wird, begriffliche Verschiebungen zu dokumentieren, ist eine kluge
kuratorische Entscheidung. Denn besonders in der Konfrontation mit den
sinnlichen Dimensionen übersteigt die Analyse der Begriffe deren bloße
Referenz. Die Kategorien, die das Wörterbuch vorstellt, werden nicht nur
als weltabbildende Konzepte verstanden, sondern auch als weltbildende,
schöpferische Interventionen. Die Montage wissenschaftlicher und
ästhetischer Positionen erschließt deshalb ein weit über das schon
Erkennbare hinausgehendes Spektrum von Bedeutung und diskursiver Funktion,
nämlich die Welt im Entstehen.
Bernd Scherer (Hg.) u. a.: „Wörterbuch der Gegenwart“. Matthes & Seitz,
Berlin 2019, 500 Seiten, 38 Euro
22 Apr 2020
## AUTOREN
Miryam Schellbach
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