# taz.de -- Kolonialist:innen waren die anderen | |
> Wer in einer Festung lebt, sieht jeden Ankommenden, der den Code nicht | |
> kennt, als Bedrohung an. Über eine Herkunft aus Magdeburg | |
Bild: Die Schule der Freundschaft in Staßfurt 1989 und namibische Kinder, bei … | |
Von Annett Gröschner | |
Ich habe meine Kindheit und Jugend in der Stadt des Schwermaschinenbaus | |
verbracht. Magdeburg war im frühen 19. Jahrhundert die theoretisch | |
uneinnehmbarste Festung Deutschlands, sie musste es allerdings in | |
Ermangelung von ankommenden Feinden (in diesem Fall: Franzosen) nie | |
beweisen. Diese Festungsmentalität steckte in meiner Kindheit noch in den | |
Erwachsenen, genauso wie die zweimalige Zerstörung der Stadt, 1631 und | |
1945. | |
Was gut war – borniertes Großbürger·innengehabe und die patriarchalen | |
Anwandlungen der Religion gab es (mit Ausnahmen) kaum. Und deshalb auch | |
wenig Zweifel daran, dass Mädchen genau die gleichen Rechte beanspruchen | |
konnten wie Jungen. Zart besaitet allerdings durfte man nicht sein, der | |
Umgang miteinander war, gelinde gesagt, robust, Sexismus inbegriffen, | |
Freundlichkeit obsolet. Dazu kam eine ausgeprägte | |
Intellektuellenfeindlichkeit, die dazu führte, dass ich mit sechzehn | |
wusste, ich habe keine Wahl: Ich werde Intellektuelle. Was heißt: Ich gehe | |
weg. | |
Von den heute in bestimmten Kreisen bevorzugten Vorstellungen einer | |
Gesellschaft aus gesehen, mit klaren Grenzen und einer Undurchdringbarkeit | |
zwischen oben und unten, war meine Kindheit und Jugend ein einziges | |
Kuddelmuddel. | |
Wenn ich nach meiner Herkunft gefragt werde, kann ich nicht Mittelschicht, | |
Adel oder Arbeiterklasse sagen. Mein Vater hat aus der Mittelschicht in die | |
Arbeiterklasse, heute leider gern als Unterschicht bezeichnet, | |
eingeheiratet, sein Bruder aber in das, was sich heute Elite nennt, weil | |
man Bourgeoisie nicht mehr sagt. Die Arbeiterklasse hatte offiziell die | |
Macht, inoffiziell eher die Funktionär·innen, der Fabrikdirektor war | |
enteignet, aber noch Direktor. Ich wuchs bei allen auf und lernte, zwischen | |
den Schichten hin und her zu switchen und die feinen Unterschiede zu | |
begreifen. | |
1990 wurde die Ordnung insofern wiederhergestellt, dass die Arbeiterklasse | |
ihre Arbeit verlor und zur Unterschicht gemacht wurde und der | |
Fabrikbesitzer sein Eigentum von der Treuhand zurückkaufte. Ich wurde die | |
aus dem Osten, der Makel meiner Herkunft stand und steht vor jeglichen | |
Klassen- oder Schichtenunterschieden. Ein Habenichts mit kulturellem | |
Kapital. | |
Wer in einer Festung lebt, sieht jeden Ankommenden, der den Code nicht | |
kennt, als Bedrohung an. Dabei gab es in meiner Kindheit gar nicht viele, | |
die ankamen und Einlass begehrten. Immer war – und ist da bis heute – die | |
Angst vor Chaos, Unordnung, Nichtzivilisation. Die meisten der Älteren um | |
mich herum waren Davongekommene, die sich mit einem (klein)bürgerlichen | |
Anspruch wieder in Form gebracht hatten. Die Form war ein Korsett. Nicht | |
die anderen waren Chaos, Unordnung, Nichtzivilisation, sie selbst hatten | |
den größten Zivilisationsbruch mehr oder weniger mitzuverantworten. Sie | |
gaben es nicht zu, denn die Nazis waren ja alle im Westen. | |
Aber das Verdrängte schwelte unter der Oberfläche. Das Repertoire an | |
Sprichwörtern und sprachlichen Entgleisungen, die den Fremden das | |
Nichtzivilisierte unterstellten und die als solche selten problematisiert | |
wurden, war groß und blieb im Kopf. Ein paar Beispiele aus dem Privaten: | |
„Das ist ja wie in der Walachei.“ | |
„Wir sind hier nicht im Zirkus.“ | |
„Du siehst aus wie eine Zigeunerin.“ | |
„Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst.“ | |
„Arbeiten wie ein Kümmeltürke.“ | |
„Polnische Wirtschaft.“ | |
Und am Schlimmsten: „Bis zur Vergasung.“ | |
Aber wie sah es offiziell aus? Ich habe, um mich zu vergewissern, in die | |
oberen Regalreihen gegriffen und alte DDR-Lexika heruntergeholt, weil ich | |
vieles auch vergessen habe. „Wir sind hier nicht bei den H*ttentotten“ | |
kenne ich zwar, in meiner Familie aber wurde es in meiner Erinnerung nicht | |
verwendet. Bei uns war es „die Walachei“, genauso fremd, nur nicht so weit | |
weg. Man konnte sogar hinfahren. Im Großen Fremdwörterbuch, Leipzig 1977, | |
wird das Wort nicht erklärt, es gibt nur „hotten“, „umg. für salopp u. | |
undiszipliniert tanzen <engl.>“. „Abhotten“ war so ein Wort für „alles | |
fallen lassen“. In Meyers zweibändigem Handlexikon, 1978 in Leipzig | |
erschienen, heißt es: „Hottentotten, Selbstbezeichnung Khoi: den | |
Buschmännern nahestehendes Volk im S und SW Afrika; 45.000; fahlgelbe, im | |
Alter stark gerunzelte Haut; durch lange Kämpfe gegen die Kolonialmächte | |
stark dezimiert; Großviehzüchter.“ Hier vermischen sich Herablassung und | |
Antikolonialismus. | |
Dieser Eintrag zeigt etwas, das mir symptomatisch für den Umgang mit | |
Kolonialismus in späteren DDR-Zeiten zu sein scheint. Kolonialist·innen | |
waren die anderen, in dem Fall: Franzosen, Spanier, Briten, Portugiesen. | |
Wir hatten damit nichts zu tun. Wir pflegten ja einen Internationalismus | |
mit unterdrückten Völkern, spendeten für Vietnam und schickten Traktoren | |
nach Angola. | |
Vor einem Jahr saß ich mit der kamerunischen Autorin Clementine Burnley, | |
die über afrikanische Vertragsarbeiter:innen in der DDR recherchiert, | |
zusammen, und mir fiel auf ihre Frage nach dem Wissen über die Kolonien | |
keine Geschichtsstunde in der Schule ein, in der es jemals um deutschen | |
Kolonialismus, um Namibia, Kamerun oder die Ermordung der Herero gegangen | |
war. Meine nachfolgende Suche in Schulbüchern für Geschichte blieb | |
erfolglos. Das deutsche Kolonialerbe stand nicht auf dem Lehrplan der | |
allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschulen der DDR. | |
Kolonialist:innen waren Leute wie Kongo-Müller, und der war aus der | |
Bundesrepublik. | |
In Meyers Lexikon von 1978 aber kommen die Herero zu meinem Erstaunen vor, | |
zwischen Herend und Hering. „Herero: urspr. großes Bantuvolk in Namibia und | |
Südangola; Viehzüchter, durch Freiheitskämpfe gegen die dt. Kolonisation | |
(H.aufstände 1904/07) stark dezimiert u. in ungünstigen Reservaten | |
angesiedelt; 75.000.“ Dezimiert. Klingt nach Tierherden. | |
Ich bin mit einer Form des Internationalismus aufgewachsen, der den | |
Kosmopolitismus in sich verleugnet hat. Solidarität mit unterdrückten | |
Völkern, ja. Allerdings konnte kaum jemand damit umgehen, wenn es jenseits | |
des Theoretischen und von Spenden ablief. Auf die Vertragsarbeiter·innen | |
war niemand vorbereitet. Da trat dann ganz schnell ein alter Rassismus | |
zutage. | |
Die DDR war eine so homogene Gesellschaft, dass selbst die, die aus den | |
Ostgebieten geflohen oder vertrieben worden waren, ihre Herkunft | |
verleugneten, meist gezwungenermaßen, um keine Nachteile zu haben. Die | |
Gesellschaft war weiß. Es gab in meiner Kindheit nur wenige Menschen mit | |
anderer Hautfarbe, außer in den Kinderbüchern. Zum Beispiel fuhr die | |
beliebte Comicfigur Bummi nach Afrika, um das Kind Sally zu suchen. | |
Die erste Schwarze, der ich, wenn auch nur von Weitem, begegnete, war | |
Angela Davis. Nachdem sie in den USA aus der Haft entlassen worden war, | |
während der ihr tausende DDR-Kinder Postkarten gemalt hatten, kam sie zu | |
uns in die Stadt und auf den Alten Markt, um sich persönlich zu bedanken. | |
Ich war fasziniert von ihr. Sie sah mit ihrem Afro und dem offenen Gesicht | |
so anders aus als die verkniffenen Männer in schlechtsitzenden Anzügen, die | |
um sie herumstanden. Bis heute gibt es nur eine Frau, die Ehrenbürgerin der | |
Stadt Magdeburg ist – Angela Davis. Obwohl ich mit Magdeburg nicht mehr | |
allzu viel zu tun habe, macht es mich ein klein wenig stolz, eine | |
Feministin als Ehrenbürgerin meiner Geburtsstadt zu haben. | |
Über die Diskrepanz zwischen verordnetem Internationalismus und | |
rassistischem Alltag in der DDR haben Autorinnen wie Angelika Nguyen oder | |
Peggy Piesche als Betroffene geschrieben. Man sollte sie lesen. | |
Als Kind und Jugendliche war alles, was anders war, für mich ein Fenster zu | |
Welt. Wir wollten Indianer:innen sein, nicht Cowboys oder -girls. Ich | |
flocht mir dreißig Zöpfe und wurde der Schule verwiesen, bis ich die Haare | |
wieder offen trug. Ich sah diese Dreads, die noch nicht so hießen, nicht | |
als kulturelle Aneignung: Ich brauchte sie, um mich abzugrenzen von meiner | |
Umgebung. Um zu zeigen, dass ich anders bin, chaotisch, anarchistisch, | |
unordentlich. | |
Als ich vor vier Jahren bei unserer Ausstellung „Inventarisierung der | |
Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht“ eine Neuköllner Schulklasse | |
durch die Ausstellung führte, blieb ein Junge mit pakistanischen Wurzeln | |
vor der Wand mit Soldatenporträts der Grenztruppen der DDR stehen und | |
fragte: „Warum sehen die alle so arisch aus?“ | |
Von seiner Attributwahl erst einmal aus dem Konzept gebracht, versuchte ich | |
die Wand mit seinen Augen zu sehen. Für ihn sahen die Männer alle gleich | |
aus, und ihre Uniformen unterschieden sich nur unwesentlich von denen der | |
Wehrmacht. So verschwimmt die Vergangenheit für die nächsten Generationen | |
langsam zu einem Ganzen, das zu differenzieren wieder und wieder die | |
Aufgabe sein muss. | |
23 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Annett Gröschner | |
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