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# taz.de -- HDP-Politiker über Coronakrise in Türkei: „Um die Gesundheit de…
> Der HDP-Co-Vorsitzende Mithat Sancar im Gespräch über die Spendenkampagne
> der Regierung, Rufe von Oppositionellen nach der Ausgangssperre und
> zwangsverwaltete Kommunen.
Bild: „Das Krisenmanagement der Türkei war von Anfang an problematisch“, s…
taz.gazete: Herr Sancar, im Umgang mit der Pandemie haben Länder wie China
und die Bundesrepublik recht unterschiedliche Modelle für die Anwendung von
Regierungsbefugnissen und öffentlicher Gewalt entwickelt. Wo würden Sie die
Türkei in diesem Spektrum verorten?
Mithat Sancar: Das Krisenmanagement der Türkei war von Anfang an
problematisch. Die Regierung scheint einfach keinen Begriff von Public
Health zu haben. Priorität hat vielmehr, die Wirtschaft am Laufen zu
halten. Das hat Erdoğan genau so formuliert. Es gibt Expert*innen, die
davon ausgehen, dass die Türkei de facto eine Strategie der Herdenimmunität
verfolge. Da scheint mir etwas dran zu sein. Um die Gesundheit der Menschen
geht es dabei nicht.
Gleichzeitig fehlt es an der Transparenz, die ja gerade bei der
Seuchenbekämpfung von grundlegender Bedeutung ist. Unsere Bevölkerung hatte
lange keinen Zugang zu Zahlen über die Verbreitungsgeschwindigkeit des
Virus. Die Menschen erfuhren nicht, wo und wann Infektionen aufgetreten
sind, wie viele Menschen im Krankenhaus oder auf der Intensivstation lagen.
Wir wussten nicht, wie viele Corona-Tote es schon gab. Und immer noch sehe
ich nicht, dass Informationen kommuniziert werden, die über alle Zweifel
erhaben sind und die Fragen der Menschen verbindlich beantworten.
Die Kommunen, die zentral für das Krisenmanagement sind, wurden durch die
zentralistische, monopolistische Haltung der Regierung außen vor gelassen.
Aber wir sehen doch, dass Infektionen zuerst auf der lokalen Ebene
auftreten und sich dann ausbreiten. Die Kommunen hätten aufgrund ihrer
Kenntnis der lokalen Bedingungen koordiniert und gemeinsam dagegen arbeiten
können. Stattdessen hat die Regierung als allererste Reaktion erst einmal
acht unserer gewählten Bürgermeister*innen der HDP durch kommissarische
Zwangsverwalter der Zentralregierung ersetzt.
Inwieweit haben die Zwangsverwalter die Bemühungen zur Seuchenbekämpfung
behindert?
Unsere Kommunen sind nicht nur effektiv gegen die Epidemie vorgegangen,
sondern haben sich durch eine starke Strategie der kommunalen Solidarität
hervorgetan. Wer da Zwangsverwalter einsetzt, versetzt einerseits der
Demokratie einen weiteren Schlag, andererseits der Public Health. Als HDP
haben wir eine mehrsprachige Informations- und Solidaritätskampagne
initiiert und die Menschen auf Kurdisch, Arabisch, Armenisch und Aramäisch
angesprochen. Die Zwangsverwalter haben zuallererst diesen
muttersprachlichen Sprachendienst verhindert. In Batman war die erste
Amtshandlung des Regierungskommissars, ein kommunales Frauenzentrum unter
die Leitung eines ihm genehmen Mannes zu stellen und den kurdischsprachigen
Teil des Internetangebots der Stadtverwaltung löschen zu lassen. Ähnlich
ist die Regierung gegen die Corona-Kampagnen der CHP-regierten Kommunen
Ankara und Istanbul vorgegangen, die den Menschen Zugang zu allgemeinen
Bedarfen ermöglichen wollten.
Dennoch hören wir gerade aus Oppositionskreisen Rufe, dass Erdoğan härter
durchgreifen soll. Auf der einen Seite eine außerordentliche
Pandemiegefahr, auf der anderen Seite ein Staat, der immer wieder das Recht
instrumentalisiert hat. Sind solche Forderungen da nicht widersprüchlich?
Ich denke, es macht Sinn zu unterscheiden zwischen einer autoritären
Ausgangssperre und einer allgemeinen Quarantäne, die für die öffentliche
Gesundheit unverzichtbar ist. Expert*innen aus der Wissenschaft, von der
WHO und von der türkischen Ärztekammer empfehlen die allgemeine Quarantäne
als Vorgehensweise und wir haben keinen Grund, dagegen Einspruch zu
erheben. Aber dann muss eben eine Regierung ihre Verantwortung wahrnehmen
und die Bedingungen dafür bereitstellen, dass die Bevölkerung auch in der
Quarantäne ihr Leben in Menschenwürde weiterführen kann. Wer eine Arbeit
hat, muss freigestellt und weiterbezahlt werden, wer arbeitslos ist und
eine Grundsicherung braucht, muss diese vom Staat bekommen. Strom, Wasser,
Erdgas und Internet sowie der Zugang zum Gesundheitssystem müssen
kostenfrei für alle gemacht werden.
Eine allgemeine Quarantäne kann ebenso wie eine Ausgangssperre durch
autoritäre und zentralistische Regierungen missbraucht werden. Wenn eine
Ausgangssperre angedacht wird, dann ist es lebenswichtig, sie so zu planen
und umzusetzen, dass sie universelle menschenrechtliche Standards nicht
unterläuft. Das können nur alle demokratischen Kräfte im Zusammenspiel
gewährleisten. Eine der ersten Aufgaben ist, ein gemeinsames Netzwerk zur
Überwachung der Maßnahmen einzurichten. Gleichzeitig braucht es im
Parlament eine ständig tagende Kommission mit Vertreter*innen aller
Fraktionen, damit die Regierung ihre Verantwortung bei der Beaufsichtigung
der Maßnahmen und der Information der Bevölkerung wahrnehmen kann.
Wo wir schon mal bei der Verantwortung der Regierung sind: Was halten Sie
von dem Hilfspaket, das Erdoğan angekündigt hat und der Spendenkampagne, zu
der er aufgerufen hat?
Erdoğans Paket hilft nicht den vielen Menschen, die in die Risikogruppe
fallen, sondern nur einer erlesenen Fraktion des Kapitals. Sie sollen durch
die Krise begleitet werden, indem ihnen öffentliche Gelder zur Verfügung
gestellt werden. Die Spendenkampagne folgt der gleichen Logik. Damit weicht
die Regierung ihrer eigenen Verantwortung aus. Spenden sind ja eigentlich
etwas Freiwilliges, aber viele öffentliche Einrichtungen und Privatfirmen
werden regelrecht zu Spenden gedrängt. Wir hören, dass bei vielen
Angestellten ungefragt etwas vom Gehalt abgeführt wird auf das
Spendenkonto. Die Kampagne wird als Ausdruck von Solidarität verkauft, in
Wirklichkeit ist sie aber nur ein weiteres Beispiel für Diskriminierung.
Hinzu kommt, dass unsere Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt und ihre
Solidaritätskampagnen behindert werden und die eigenen Spendenkonten der
CHP-Kommunen einfach eingefroren werden.
Die HDP will einen alternativen Wissenschaftsrat zusammenrufen. Glauben
Sie, dass Sie damit der zentralstaatlichen Macht der AKP und der
parteieigenen Experten etwas entgegensetzen können?
Wir brauchen soziale Solidarität mehr als alles andere. Wir dürfen die
Menschen nicht einer zentralistischen Willkürherrschaft überlassen, für die
Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste steht. Was verbindet uns
im Kampf gegen eine Ordnung und eine Regierung, die nach den Interessen des
Kapitals agiert? Alles, was die öffentlichen Interessen in den Vordergrund
stellt und sich für die Rechte der Werktätigen einsetzt. Gemeinsam müssen
wir Wege der Solidarität erfinden. Es mangelt an Transparenz, und der
offizielle Wissenschaftsrat, den die Regierung eingerichtet hat, beschließt
irgendwelche Dinge, von denen wir ehrlich gesagt nicht einmal erfahren.
Zahlen hingegen, die von der türkischen Ärztekammer und anderen
hochrenommierten Akteuren vorgelegt werden, begegnet diese Regierung
argwöhnisch. Das spornt uns dazu an, einen solchen Rat zu organisieren, der
im Dienste der Öffentlichkeit stehen soll.
Innenminister Süleyman Soylu behauptet, in “Südost- und Ostanatolien“, al…
in den kurdischen Gebieten, halte sich niemand an die Corona-Verordnung.
Sie haben dem entgegengehalten: “Wenn in diesem Gebiet bis vor wenigen
Tagen die Ausgangssperren nicht hinreichend beachtet worden sind, dann
liegt das an einem mangelnden Vertrauen in den Staat.“ Was meinen Sie
damit?
Die Menschen in den kurdischen Gebieten kennen Ausgangssperren seit
Jahrzehnten als eines der mächtigsten Symbole für einen gewaltvollen,
repressiven Staat. Wenn die Regierung diese Menschen jetzt dazu aufruft,
zuhause zu bleiben oder ihnen verbietet, auf die Straße zu gehen, dann
werden diese Menschen das schlicht nicht als Vorkehrungen auffassen, die
zum Schutz der Bevölkerung gedacht sind. Die Menschen vertrauen in dieser
Hinsicht dem Staat nicht. Sie versuchen also, ihr Alltagsleben möglichst
unbeschadet fortzusetzen. Es ist komplett falsch, das als
Verantwortungslosigkeit oder Indifferenz der kurdischen Bevölkerung zu
framen.
Die Menschen in den kurdischen Gebieten sind bis heute nicht mit
ausreichend Informationen zur Pandemie versorgt worden. Niemand hat ihnen
erklärt, was es braucht, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.
Sobald Personen, denen die Menschen vertrauen, sie in ihrer Muttersprache
informieren, halten die Menschen sich auch an Maßnahmen und Gebote und
übernehmen Verantwortung, um sich und Menschen in ihrer Umgebung zu
schützen.
Viele Politiker*innen aus Ihrer Partei sitzen aktuell im Gefängnis. Nun
sollen Gefangene entlassen werden, um die Ausbreitung des Virus in den
Haftanstalten zu verhindern, aber ausgerechnet politische Gefangene sind
von dieser Maßnahme ausgenommen und bleiben inhaftiert. Wie sieht es
derzeit in den Gefängnissen aus?
Die Gefängnisse sind Orte von höchstem Infektionsrisiko. Sobald ein paar
Menschen sich infiziert haben, ist es kaum noch möglich, eine Ausbreitung
des Virus in der gesamten Haftanstalt zu verhindern. Es gibt weder
Möglichkeiten zum Social Distancing noch frische Luft, Tageslicht oder
gesunde Ernährung, um das Immunsystem zu stärken. Der Hohe Kommissar der
Vereinten Nationen für Menschenrechte, der Europarat und viele andere
internationale Institutionen haben konkrete Hinweise zur Situation in den
Haftanstalten gegeben und dazu aufgerufen, sie komplett zu evakuieren.
Selbst ein repressives Regime wie das iranische hat sich an diese
Empfehlung gehalten. Aber die türkische Regierung hat eine Gesetzesvorlage
erarbeitet, die sich diesen Empfehlungen widersetzt und das
Gleichheitsprinzip im Strafvollzug komplett außer Kraft setzt. Alle
politischen Gefangenen sind von der Haftentlassung ausgenommen. Wir sind
einem Virus ausgesetzt, das keine Unterschiede zwischen den Menschen macht,
und einer Regierung, die auf Diskriminierung setzt. Die Regierung muss
sofort von diesem falschen Weg ablassen. Sonst wird sie sich verantworten
müssen für das Leben der inhaftierten Menschen, die durch das Virus sterben
oder schwere Schäden erleiden.
Sobald die gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der
Pandemie absehbar wurden, ist die Identitätspolitik hinter Klassenanalysen
zurückgetreten. Was heißt das für die kurdische Bewegung?
Die Pandemie hat ein globales Kastensystem errichtet. Oben sind die
Reichen. Diese Klasse verfügt über alle Möglichkeiten, um die Auswirkungen
der Pandemie auf ein Minimum zu reduzieren. Sie können sich in isolierten
und komfortablen Anwesen in Sicherheit bringen. Dann kommt die
Mittelklasse, die sich in städtischen Gebieten in ihren Wohnungen und
Häusern verschanzt und dort die Bedingungen vorfindet, um ihr Leben
weiterzuführen. An dritter Stelle kommen die Menschen, die weiterarbeiten
müssen. Die Arbeiterklasse ist einem hohen Risiko der Infektion und
Weiterverbreitung ausgesetzt. Aber als vierte Gruppe stehen unter ihnen die
Menschen, die nicht einmal zu einer Klasse gehören und überhaupt keine Orte
haben, an denen sie sich vor der Pandemie verstecken könnten: Arbeitslose,
Wohnungslose und Migrant*innen.
Viele Elemente, die bisher Klassenwidersprüche verschleiert haben, sind mit
der Pandemie durchsichtig geworden, und man sieht grob vereinfacht das oben
skizzierte Bild. Ich denke, die auf Ungleichheit basierende Struktur des
Systems ist jetzt decodierbarer geworden als vor der Pandemie. Deshalb
sprechen jetzt mehr Menschen von Klassenanalysen. Ein großer Teil unserer
kurdischen Basis gehört im Wesentlichen zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen
des Landes. Die Armen, Unterdrückten und Ausgegrenzten aus dem ganzen Land
zusammenzubringen ist Daseinsgrund der HDP. Wir sind eine emanzipatorische
Bewegung für die Arbeiter*innen, die sich auf die Werte der Gleichheit und
der Solidarität beruft und diese Werte durch einen Fokus auf lokaler,
kommunaler Demokratie verwirklichen will. Unser Standpunkt in der
Klassenfrage dürfte damit klar sein. Ich glaube nicht, dass unsere
Positionen sich mit Klassenanalysen beißen.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
8 Apr 2020
## AUTOREN
Altan Sancar
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Politik
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