# taz.de -- Die Pest zu London | |
> Ein Mix aus Reportage und Fiktion, der uns etwas über die Gegenwart | |
> erzählt: Daniel Defoes Botenbericht über ein Pestjahr in London | |
Bild: Der „Heimsuchung“ von 1665/66 fielen 100.000 Menschen in London und U… | |
Von Peter Funken | |
Wie empfindlich selbst moderne, technisch gut ausgestattete Gesellschaften | |
auf epidemische Ereignisse reagieren, zeigt sich in der Corona-Pandemie. | |
Solange es keinen Impfstoff gegen das neue Sars-Virus gibt, sind soziale | |
Distanz und Quarantäne die einzig wirksamen Maßnahmen gegen die Krankheit. | |
Dass Isolierung wirkungsvoll ist, war bereits vor ein paar hundert Jahren | |
bekannt, als man versuchte, die Pest in London, Venedig oder Berlin | |
einzudämmen. Berlin wurde unter anderem 1451 und 1484 von einer | |
Pestepidemie getroffen, und als es im 18. Jahrhundert zur letzten großen | |
Pestpandemie in Europa kam, ließ König Friedrich I. aus Sorge vor einem | |
weiteren Ausbruch in Berlin ein Pesthaus errichten, aus dem dann die | |
Charité hervorging. | |
Über die Entstehung und den Verlauf einer der großen Pestepidemien schrieb | |
Daniel Defoe (1660–1731), der Autor des „Robinson Crusoe“, ein | |
bemerkenswertes Buch: „Die Pest zu London“ („A Journal of the Plague | |
Year“). | |
Defoe berichtet in einem Mix aus Reportage und Fiktion über das | |
Seuchenereignis der Jahre 1665/66. Das Buch erschien 1722, fast 60 | |
Jahre nach der Katastrophe. Defoe war ein Kind von fünf Jahren, als die | |
„Heimsuchung“ 100.000 Menschen in London und Umgebung das Leben kostete: | |
„Unzweifelhaft vermengte Defoe eine Anzahl von Überlieferungen mit dem, was | |
er wirklich gesehen haben mochte“, schrieb Sir Walter Scott bewundernd. | |
Scott hielt die Pest für einen „geeigneten Stoff für eine so | |
wahrheitsliebende Feder wie die Defoes“. Jens Bisky sagte über Defoes Buch, | |
hier schreibe ein „mitfühlender, sorgfältig prüfender und glaubensfester | |
Mann über das Leben der Familien, über Sterbelisten und Novellen, die die | |
Katastrophe begleitet hatten“. | |
„Die Pest zu London“ ist ein Botenbericht, den Defoe für seine Zeitgenossen | |
verfasste, damit sie vorsichtig und umsichtig handeln sollten: Dazu bestand | |
durchaus Anlass, denn 1721 war die Epidemie gerade in Marseille | |
ausgebrochen, und es war zu befürchten, dass sie wieder via Amsterdam in | |
London erscheinen könnte. Dies, glaubte Defoe, galt es unbedingt zu | |
verhindern, denn seit Mitte des 14. Jahrhunderts hatte die Pest viermal in | |
London gewütet, das letzte Mal in den Jahren 1665/66 aber weitaus am | |
schlimmsten. Es war eine Beulenpest gewesen, die von Flöhen auf Ratten und | |
dann auf den Menschen übertragen wurde. Sie verursachte eiternde | |
Geschwulste im Nacken und in der Leistengegend. Begleitet von starken | |
Schmerzen trat der Tod nach qualvollen Tagen fast sicher ein. | |
Defoe beschreibt die Ereignisse aus der Sicht eines Londoner Sattlers, dem | |
er das Kürzel H. F. gibt. Dies könnten die Initialen seines Onkels gewesen | |
sein, letztlich spielt es aber keine besondere Rolle, denn vor allem | |
benötigte Defoe für seinen detailreichen Bericht einen Ich-Erzähler, der | |
Erlebtes und Vernommenes so zusammenbringt, dass ein komplexes, | |
anschauliches Bild der Ausnahmesituation entstehen kann. | |
Defoe verarbeitete für seinen Report dokumentarisches Material, Zahlen und | |
Namen aus Sterberegistern Londoner Kirchspiele, Anordnungen und Verbote der | |
Amtspersonen, des Lord Mayor Sir John Lawrence und seiner beiden Sheriffs | |
Waterman und Doe, der Wund- und Pestärzte, der Stadträte, Friedensrichter | |
und Examinatoren: So sind die Häuser von Pestkranken mit einem roten Kreuz | |
von der Länge eines Fuß (30 cm) zu kennzeichnen, darüber in Druckschrift: | |
„Herr, erbarme dich unser“. | |
Die Häuser von Erkrankten werden bewacht, damit niemand daraus fliehen | |
kann. Für den Lebensbedarf der Insassen sorgten zwei Wächter, das Haus | |
blieb auch nach Gesundung von Kranken für 20 Tage verschlossen; diese | |
Quarantäne wurde genau überprüft. Vieles war untersagt: „Alle | |
Unterhaltungsspiele, Bärenhetzen, Geldspiele, jedes Balladensingen, alle | |
Schildspiele, die Menschenansammlungen zur Folge haben“, sind verboten und | |
werden hart bestraft. Öffentliches „Schwelgen“ und „liederliches Zechen�… | |
wird geahndet, die „Unmengen von Landstreichern und wandernden Bettler“ | |
werden in der City of London nicht länger geduldet, weil sie nur schlecht | |
zu kontrollieren sind. | |
Häusliche Isolation und Quarantäne von 20 bis 30 Tagen konnten Visitatoren | |
und Examinatoren anordnen. Da sie die Häuser von Infizierten absperren | |
durften, wurden die Erkrankten oft nicht sofort gemeldet: Denn dies hatte | |
Folgen für die Gemeinschaft, die Infizierten steckten natürlich ihre | |
Umgebung an. | |
Der Erzähler H. F., der gegen seinen Willen drei Wochen als Visitator bei | |
Hausbesuchen mitmacht, ist strikt gegen das Absperren der Häuser, weil | |
damit Kranke und noch Gesunde gemeinsam kaserniert werden. Für | |
wirkungsvoller hält er die Trennung beider Gruppen, er wünscht, dass man | |
die Kranken in Pesthäuser überführt. Davon gab es in London damals aber nur | |
zwei. Pflegerinnen und Helfer waren damals zahlreich, denn die Armen der | |
Stadt suchten nach Jobs und taten alles, um an Geld zu kommen – viele | |
arbeiteten als Leichenträger oder auf dem Friedhof. | |
Doch wenn Arme befallen waren, schreibt Defoe, hatten sie „weder Nahrung | |
noch Arznei, weder Arzt noch Apotheker, noch Wärterin, sie zu pflegen. | |
Viele von ihnen starben auf die elendste und beklagenswerteste Weise, | |
während sie aus dem Fenster um Hilfe und sogar nach Nahrung riefen; aber es | |
muss hinzugefügt werden, wann immer die Fälle solcher Personen oder | |
Familien dem Lord Mayor gemeldet wurden, wurde ihnen stets geholfen.“ In | |
London gab es nach Defoe während der Pest immer zu essen, und auch die | |
Toten wurden stets begraben, wenn auch auf dem Höhepunkt der Seuche in | |
Massengräbern und ohne kirchliches Geleit und Geläut. | |
Und dann erlebt H.F., der nicht aus London flieht, wie so viele, auch der | |
König samt Hofstaat, in dieser Stadt, in der neben Kaufleuten und | |
Handwerkern viele Arme und Gebrechliche zu Hause sind, Grauenhaftes wie | |
Mitleiderregendes. Alles, was man sich denken oder nicht denken kann, wenn | |
eine große Seuche in einer großen Stadt wütet. London hat damals immerhin | |
350.000 Einwohner. 70.000 von ihnen werden sterben. H. F. bleibt in der | |
Stadt, weil er auf Haus und Warenlager seines Bruders aufpassen soll, denn | |
auch dieser hat mit seiner Familie die Stadt verlassen. | |
Anfänglich sind nur wenige infiziert in St. Giles in the Fields am | |
nordöstlichen Stadtrand, aber bald schnellen die Zahlen der Toten in allen | |
Kirchspielen und später auch in der City dramatisch in die Höhe. 2.000 Tote | |
in der Woche sind keine Seltenheit, im Juli 1665 sind es sogar 4.000, und | |
in den Monaten August und September 1665 werden 46.000 Pestopfer | |
verzeichnet. | |
Neben exakten Zahlen bringt Defoe vermeintlich Erlebtes und Gesehenes zu | |
Papier. Er muss eine unglaubliche Neugierde auf Geschichten und Details | |
gehabt haben, die er sich von allen Seiten erzählen ließ und in seine | |
Reportage einbaute. So etwa die von der verlorenen Geldtasche, die nahe des | |
Postamts gefunden wurde. Keiner wollte sie anfassen, bis ein Beherzter – | |
geheilt von der Pest und nun vermeintlich immun – sie mit einer | |
rotglühenden Zange hochnimmt und verbrennt. Die Geldnoten schüttelte er | |
zuvor in einen Wassereimer. | |
Feuer und Rauch, so dachten die Menschen, würde die vergiftete, krank | |
machende Luft reinigen und die Pestilenz aus den Gebäuden entfernen. Aus | |
heutiger Sicht war dies tatsächlich wirkungsvoll, um Pestkeime abzutöten. | |
Auch Muskatnuss, Knoblauch, Raute oder das teure Theriak sollten gegen die | |
Pest helfen oder vor Ansteckung schützen. Mit Essig und mit Tabakrauch | |
wollte man die Krankheit fernhalten. Aderlass und das Aufschneiden der | |
Pestbeulen versprach Heilung, die aber nur selten eintrat. | |
Es waren katastrophale Zeiten, führte England doch einen Seekrieg gegen die | |
Holländer, und es scheint fast unglaublich, dass die Epidemie nicht auf die | |
britische Flotte übergriff. Ende Juli 1666 erlischt die Pest. „Die | |
Krankheit war entnervt und ihre Bösartigkeit verausgabt“, schreibt Defoe. | |
Da kam es im Spätsommer zum „Großen Brand“, bei dem vier Fünftel Londons, | |
vor allem der mittelalterliche Teil, den Flammen zum Opfer fielen und | |
100.000 Menschen obdachlos wurden. Danach erbaute man die Stadt neu, vor | |
allem in Stein und deutlich breiter angelegt. | |
Defoes Pest-Bericht ist ein Dokument, das Aktualität besitzt. Seine | |
literarische Stärke liegt in der realistischen Darstellung, die dadurch | |
entsteht, das der Autor Tatsachen und mehr oder weniger Glaubwürdiges aus | |
individuellen Erzählungen literarisch miteinander verbunden hat und so das | |
komplexe Geschehen der Epidemie erfahrbar macht. Dies entsprach Defoes | |
Verständnis einer der Aufklärung verpflichteten bürgerlichen Moral, die | |
sich im Sinne des Calvinismus zugleich als gottesfürchtig und | |
unternehmerisch verankert verstand und dabei nach neuen Formen für die | |
Gesellschaft und ihre Institutionen suchte. | |
„Die Pest zu London“ ist in seiner illusionslosen und doch | |
menschenfreundlichen Perspektive auch für die Gegenwart ein Botenbuch. Wer | |
etwas über das Verhalten von Menschen in extremen Zeiten wissen will, wird | |
darin fündig. | |
11 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Peter Funken | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |