# taz.de -- debatte: Die kalte Panik | |
> Absagen, Flugsperren, Produktionsstopps: Viele sind offenbar erleichtert, | |
> dass es doch möglich scheint, unseren ruinösen Alltag zu ändern | |
I want you to panic“ lautete die Botschaft Greta Thunbergs angesichts des | |
drohenden Klimakollaps vor gut einem Jahr. Seitdem hat sich viel getan: Das | |
Thema ist im Mainstream angekommen, Regierungen haben erste – bei Weitem | |
nicht ausreichende – ökologische Reformen beschlossen, man spricht von | |
einer neuen Politisierung der Jugend. Doch die Panik ist ausgeblieben – zu | |
schleichend ist die Katastrophe planetaren Ausmaßes, die zwar aus | |
geologischer und evolutionsbiologischer Perspektive viel zu schnell | |
passiert, aus menschlicher allerdings zu langsam, um wirklich zu | |
drastischem, gar panischem Handeln zu führen. | |
Covid-19 löst ganz andere Reaktionen aus: In schier unmöglich gedachter | |
Geschwindigkeit werden Reiseverbote erlassen, Grenzen, Universitäten, | |
Schulen geschlossen, das öffentliche Leben beschnitten und die | |
internationalen Produktionsketten unterbrochen. Flüge werden gestrichen, | |
Fabriken heruntergefahren: Der globale CO2-Ausstoß ist in den letzten | |
Wochen stark zurückgegangen – und das aufgrund einer Panik, die eigentlich | |
nicht auf dem ökologischen Problem fußt. Abseits von virologischen Kalkülen | |
und gesundheitspolitischen Rationalitäten sollte auch die Frage gestellt | |
werden, inwieweit sich hier nicht auch gerade ein Bedürfnis nach Panik in | |
unseren ökologisch katastrophalen Lebensweisen äußert. | |
Gleich vorweg: Die Bedrohung des neuartigen Sars-CoV-2-Virus ist real, dies | |
kann niemand abstreiten. Mit einer Inkubationszeit von zwei Wochen bei | |
gleichzeitig hoher Infektionsrate ist der neuartige Coronavirenstamm ein | |
virologischer Albtraum, dessen Ausbreitung kaum zu stoppen ist. Tatsächlich | |
scheint man sich aufseiten der Behörden mittlerweile darauf eingestellt zu | |
haben, dass wir am Anfang einer globalen Pandemie stehen. Aktuelle | |
Schätzungen besagen, dass bis zu 70 Prozent der Weltbevölkerung letzten | |
Endes infiziert sein werden. | |
Dennoch ist Panik gegenüber dem neuartigen Virus – wie es sich in | |
Hamsterkäufen oder Liveticker-Updates zur Zahl der Infizierten äußert – | |
fehl am Platz. Laut dem Infektiologen Pietro Vernazza ist die | |
Mortalitätsrate bei kühler Berücksichtigung der hohen Dunkelziffer der | |
Infizierten ohne Ausbruch von Symptomen wahrscheinlich weit unter den | |
derzeit veranschlagten ein Prozent. (Zur Erinnerung: Vor gut einer Woche | |
hieß es noch zwei Prozent.) Die Bevölkerung wird sich höchstwahrscheinlich | |
langsam immunisieren und auch Impfstoffe werden vermutlich schon in der | |
nächsten Zeit an Proband_innen getestet. Es wird zu einer tragischen Anzahl | |
an Toten kommen, aber ob diese die Zahl von Opfern häuslicher Gewalt, | |
ökologischer Schäden, Verkehrstoter oder schlichtweg anderer Viren weltweit | |
in selber Zeit übersteigt, bleibt mehr als fraglich. | |
Wie konnte es also zu dieser vielfach panischen internationalen Reaktion | |
angesichts des Coronavirus kommen? Die Philosophin Isabelle Stengers | |
bezeichnet die emotionale Grundhaltung unserer sich der ökologischen | |
Katastrophe bewusst werdenden Gesellschaften als „kalte Panik“. Wir, die in | |
Flugzeugen fliegen, reichen Konsumgesellschaften angehören und von globalen | |
ökonomischen Ungleichheiten profitieren, wissen um unsere Komplizenschaft | |
an der Klimakatastrophe. Es ist die Normalität des zu großen ökologischen | |
Fußabdrucks, die die Katastrophe ist. Doch vor dem, was normal ist, kann | |
man schwer in Panik geraten. | |
Symptomatisch für den Zustand der „kalten Panik“ ist, dass es eine große | |
Sehnsucht und mediale Nachfrage nach Katastrophen gibt – doch die | |
eigentlich diesen fragilen Zustand bewirkende Katastrophe ist zu diffus und | |
komplex, um als Objekt der Panik herzuhalten. In diesem hypernervösen | |
Zustand stürzen wir uns gierig auf alle möglichen anderen potenziellen | |
Panikquellen: Neben den einfach zu aktivierenden rassistischen Motiven | |
einer sogenannten „Flüchtlingskrise“ eignet sich das Virus besonders gut �… | |
und spielt teilweise sogar dieselben Register eines „Eindringlings von | |
außen“, gegen den man sich abschotten muss. | |
Warum aber ist dann die Panik gegenüber Corona höher, als es bei SARS oder | |
der Schweinegrippe der Fall war? Neben dem virologisch anderen Charakter | |
des Sars-CoV-2-Virus mag ein Erklärungselement auch der Panik-Slogan | |
Thunbergs sein: Das Bewusstsein für den katastrophalen Zustand unseres | |
Planeten ist mit der neuen Umweltbewegung stark gestiegen – und mit ihr die | |
„kalte Panik“. Könnte es sein, dass die heftigen Reaktionen auf die | |
Corona-Epidemie auch dem Bedürfnis entspringen, die katastrophale | |
Normalität zu suspendieren? Manchmal scheint man fast eine Art romantische | |
Erleichterung gegenüber den Absagen, Flugsperren und Produktionsstopps zu | |
verspüren. Es scheint plötzlich doch möglich, unser katastrophales business | |
as usual zu ändern. Wenn schon nicht durch Fridays for Future, so halt mit | |
Covid-19. | |
Doch muss man aufpassen, die beiden Probleme nicht zu vermischen. Ein Virus | |
bedarf anderer Maßnahmen als die Klimakatastrophe. Spielt die „kalte Panik“ | |
unserer ökologisch prekären Situation zu sehr in die gegenwärtige | |
Corona-Pandemie, laufen wir Gefahr, in ein dystopisches Szenario zu | |
rutschen: Dann werden alle Kulturveranstaltungen und Lehrinstitutionen | |
geschlossen, das öffentliche Leben wird beschnitten und die neuen, alten | |
Führergestalten der Politik inszenieren sich als messianische Beschützer, | |
während andere drängende Probleme wie die Lage von Geflüchteten in | |
Griechenland oder eben die Notwendigkeit eines ökologischen Wandels unter | |
den Tisch fallen. | |
Die moderne Gesellschaft wird mit Covid-19 aller Wahrscheinlichkeit nach | |
einen Umgang finden. In puncto ökologische Katastrophe steuern wir aber | |
weiterhin ungebremst auf den Kollaps zu. Hierbei können wir sogar von | |
Corona lernen: Es ist möglich, Flüge zu verbieten, Produktionen | |
runterzufahren und andere drastische Verbote auszusprechen. Doch Panik an | |
falschen Orten wird uns nicht helfen. | |
17 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Kilian Jörg | |
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