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# taz.de -- Kurz vor dem Kollaps
> Die libanesische Bevölkerung leidet unter der schwersten Wirtschaftskrise
> seit 30 Jahren. Wie sich der Alltag am Rande des Staatsbankrotts anfühlt,
> erfuhr unsere Autorin in Beirut
Bild: Café, Palmen, Mittelmeer – Beirut kann eine angenehme Stadt sein
Aus Beirut Hanna Voß
Die Souvenirs für zu Hause hatte ich besorgt, die Geschenke an die, die ich
zurücklassen würde, verteilt. Ich komme wieder, versprach ich, bald schon,
sobald es geht. Warte ab, wie sich die Situation entwickelt, sagten mir
meine libanesischen Bekannten, und es ging dabei nicht um das Coronavirus.
Ich sagte: „Hm.“
Ohne den Glauben an eine baldige Rückkehr wäre mir mein Abschied aus Beirut
nach zwei Monaten noch schwerer gefallen. Ich wollte nicht gehen. Wer weiß,
wer von uns dann überhaupt noch da ist, sagten meine neuen Freunde auch.
Ich wischte den Gedanken weg, die Vorstellung tat mir weh.
Es war mein Privileg, das wegwischen zu können, die Libanes:innen können es
nicht. Die Situation ist dramatisch, wird täglich schlimmer, spürbar für
alle. Sie wissen, der Kollaps steht kurz bevor. Vergangene Woche warteten
sie auf die Stellungnahme von Ministerpräsident Hassan Diab, der dann
Historisches verkündete: Erstmals kann der Libanon seinen Verbindlichkeiten
nicht nachkommen. Am Montag wäre eine Rückzahlung von 1,2 Milliarden
US-Dollar an ausländische Gläubiger fällig gewesen, Diab ließ sie
verstreichen: „Wie können wir sie bezahlen, wenn viele Menschen nicht
genügend Geld haben, um Brot zu kaufen?“
Seit Monaten ächzt das Land unter der schwersten Wirtschaftskrise seit mehr
als 30 Jahren, manche behaupten, selbst nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990
sei es nicht so schlimm gewesen wie jetzt. Seit 1997 koppelt die
Zentralbank das libanesische Pfund (Lira) an den Dollar, zum
festgeschriebenen Wechselkurs von 1.500 Lira pro Dollar.
Da der Libanon viel mehr Güter importiert als exportiert, benötigt er den
Zufluss von Fremdwährungen, um das Defizit auszugleichen. So konnte die
große libanesische Diaspora, vor allem aus Frankreich und Südamerika, ihr
Geld über Jahrzehnte zu attraktiven Zinsen im Libanon anlegen. Die Banken
finanzierten die hohen Erträge, indem sie dem Staat Anleihen abkauften, ihm
also Kredite gaben und dafür wiederum hohe Zinsen erhielten.
Doch die Zuflüsse aus dem Ausland gingen zurück, Ende 2019 kollabierte das
System. Die Staatsverschuldung des Libanon beläuft sich heute auf 170
Prozent des BIP. Auf dem Schwarzmarkt wird der Dollar nun mit mehr als
2.600 Lira gehandelt, doch tatsächlich gibt es schlicht kaum mehr Dollar im
Land, die Devisenreserven hätten ein „kritisches und gefährliches Maß“
erreicht, gab Diab zu.
Tausende Geschäfte, kleine, große, mittelständische, mussten seit September
schließen, darunter allein knapp 800 Lebensmittel- und Getränkebetriebe.
Die Preise haben sich verdoppelt. Mittlerweile leben rund 40 Prozent der
Libanes:innen unterhalb der Armutsgrenze, bis Ende des Jahres werden es
Ökonom:innen zufolge mehr als 50 Prozent sein. Die Menschen bekommen keine
Jobs oder verlieren ihre Arbeit. Und die, die eine gute Stelle haben,
bekommen für ihren Lohn immer weniger. Da die Lira also an Wert verliert
und gleichzeitig die Preise steigen, können sich viele nicht einmal mehr
Grundnahrungsmittel leisten.
Vergangenen Oktober, als eine Steuer auf die Nutzung von WhatsApp erhoben
werden sollte, gingen spontan Tausende Menschen auf die Straße, um gegen
das System und die politischen Eliten zu protestieren. In ihren Augen war
es auch die Nähe der Politiker zu den Banken, die das Land, das zu den
korruptesten der Welt zählt, an den Abgrund gebracht hatte. Die Proteste
wuchsen heran, an manchen Tagen trieb es mehr als eine Million Menschen auf
die Straße. Die Regierung trat zurück, Zeit verstrich, eine neue Regierung
übernahm, mehr Zeit verstrich. Noch immer gibt es zwar Proteste,
gewaltvolle auch, doch noch sind die Massen von damals nicht zurück. Viele
suchen nach anderen Wegen.
In meiner Zeit in Beirut lernte ich Nour kennen, die für eine deutsche
Organisation arbeitet und deutsche Wörter lernt, um bessere Chancen zu
haben, wenn sie sich in Deutschland bewirbt. Ahmed, der an der
Amerikanischen Universität in Beirut gut verdient, und einen Großteil des
Geldes seinen Eltern gibt. Der sich auf eine Stelle in Abu Dhabi beworben
hat, um ihnen und dem Land, wie er sagt, besser helfen zu können. Ich war
auf Isaacs Abschiedsparty, der einen der begehrten Jobs in Abu Dhabi
bekommen hat. Lina, die auf ihren Visa-Bescheid aus Paris wartet, der schon
einmal abgelehnt wurde. Rawad, der nur deshalb keine Probleme hat, weil er
von seiner Firma in Dollar bezahlt wird, die er, wie alle, zu Hause hortet,
weil er sie von den Banken nicht zurückbekommen würde.
Sie alle sagen auch, dass sie den Libanon lieben und nicht gehen wollen,
aber wohl müssen, um eine Zukunft zu haben. Sie gehören zu einer
gebildeten, mitunter auch wohlhabenden Schicht der Hauptstadt. An anderen
Orten des Landes stehen Kinder an den Straßen, auf Feldern oder in
Werkstätten, um für die Familien etwas dazuzuverdienen. Syrische Familien
leben weiter in Zeltlagern und haben nicht genug Geld, um sich Heizmaterial
zu kaufen. Stattdessen verbrennen sie Schuhe. An mobilen Küchen stehen
Libanes:innen wie Syrer:innen in langen Reihen, um Essen für den Tag zu
erhalten.
Es ist ein Privileg, unliebsame Gedanken wegwischen zu können, es ist mein
Privileg. Mit einem Journalist:innen-Stipendium nach Beirut gekommen, war
für mich gesorgt. Ich lebte im wohlhabenden Stadtteil Achrafieh, bei uns
fiel nur drei Stunden am Tag der Strom aus, in anderen Teilen des Landes
können es bis zu 18 Stunden sein. Jeden Freitag bekamen wir frisches Wasser
nach Hause geliefert, ich ging fast jeden Tag essen und am Wochenende aus.
Auch ich ärgerte mich, wenn der Strom plötzlich weg war oder mein
Lieblingssaft im Supermarkt schon wieder 1.000 Lira mehr kostete. Und war
besorgt, als unsere Vermieterin die Miete plötzlich in Dollar ausbezahlt
bekommen wollte, eine schiere Unmöglichkeit angesichts der Situation. Mehr
als 200, später 100 Dollar pro Woche bekam niemand mehr. Doch noch konnte
ich mir das teure Beiruter Leben leisten, die (meisten) Bankautomaten
blätterten mir ergiebig die grünen, blauen und roten Scheine der
libanesischen Währung in die Hand.
Und dann, am vergangenen Wochenende, als ich praktisch schon auf dem Weg
nach Hause war, spürte ich es doch noch. Ich musste meinen Flug vom
Rafiq-Hariri-Airport nach Berlin umbuchen, ich bräuchte nur 65 Dollar,
sagte mir der freundliche Mann am Schalter,. Zehn Minuten hätte ich Zeit,
im Eingangsbereich des Flughafens sei ein Automat.
Ich zog meine Koffer zurück in die Halle, parkte sie am Automaten und schob
meine verlässliche Sparkassen-Mastercard hinein. 100 Dollar, den
kleinstmöglichen Betrag, verlangte ich. Ich wählte die Sprache, drückte
Zahlen, akzeptierte den Wechselkurs. Und dann: Ihre Karte wurde gestoppt.
Ich versuchte es nur aus Hilflosigkeit ein zweites Mal, ich wusste, es
würde nicht klappen. Ich hatte es schon in dem Moment gewusst, als der
Flughafenmitarbeiter sagte, es müssten Dollar sein, Lira nehme er nicht an.
Ich blieb also vorerst in Beirut. Und so wohl ich mich noch immer fühlte,
spürte ich, wie sich die Stimmung veränderte. Ohne das Coronavirus wären
womöglich schon wieder viel mehr Menschen zurück auf der Straße, diesmal
noch wütender und nicht nur von Ärger, sondern teilweise sogar von Hunger
getrieben.
Ein Freund sagte mir, die Eskalation liege in der Luft, das System habe
sich verbraucht. Ein Zurück gibt es nicht, denke ich. Es wurde ausgehöhlt
von Korruption, Klientelismus und konfessionell-ethnischem Dünkel. Und es
braucht eine Generalüberholung.
Doch die Zeit, das ohne Chaos zu lösen, verrinnt. Noch hoffe ich auf einen
Neuanfang für dieses wunderschöne Land mit seinem großen Potenzial. Aber
auch hoffen zu dürfen ist ein Privileg.
14 Mar 2020
## AUTOREN
Hanna Voß
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