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# taz.de -- Wem gehört die „Alternative“?
> In der Reihe „Richtige Literatur im Falschen“ diskutieren heute Luise
> Meier, Norbert Niemann, Enno Stahl und Gerhild Steinbuch im Brecht-Haus
> über den Begriff „Alternative“. Wir drucken ihre vier Kurzessays zu dem
> Terminus
Bild: 1. Mai.1980 Stadtteilfest der Alternativen Liste (später Grüne) am Laus…
## Utopische Gesellschaftsentwürfe
Ist die Literatur womöglich per se das Andere? Das, was sich positiv oder
negativ absetzt vom Gegebenen? Wäre also Literatur naturgemäß schon eine
Alternative – weil sie, wenigstens in sich, zunächst einmal zweckfrei ist,
keinem Nützlichkeitsprinzip unterliegend? Wohl eher nicht. Diesen Anspruch
muss sie sich erst erarbeiten. Auch Literatur ist (fast immer) geprägt vom
Warencharakter, und sei es nur die Ware Aufmerksamkeit.
Das Verhältnis von Literatur und Alternative kann zweierlei Formen
annehmen. Zum einen kann Literatur direkt Alternativen gestalten, zum
Beispiel utopische Gesellschaftsentwürfe. Zum anderen kann sie selbst – in
ihren Inhalten und Formen – eine Alternative darstellen, nämlich zum
literarischen (und damit gesellschaftlichen) Mainstream. Ersteres schlägt
sich in den klassischen politischen Utopien nieder, Thomas Morus, Tommaso
Campanella, Francis Bacon. Ex negativo vermag auch eine literarische
Dystopie eine gesellschaftliche Alternative aufzuzeigen, indem sie an die
Menschen appelliert, die dargestellten sozialen und ökonomischen
Verwerfungen zu verhindern – wie Orwells „1984“ oder Huxleys „Brave New
World“.
Soll sie selbst die Alternative sein, alternative Literatur, dann muss sie
sich absetzen von den Sujets, Ausdrucksformen und Settings marktkonformer
Dichtung. Man wird es ihrer Sprache anmerken, ihren Erzählweisen, ihren
Charakteren, den „Experimenten“, mit denen sie sich gegen das Herkömmliche
verwahrt. Das können Strategien der Verfremdung sein, der Erhöhung des
Schwierigkeitsgrades, der Hermetik oder der Erzählakrobatik. Das können
politisch subversive Inhalte sein, analytische Kompetenzen, die solche
Literatur für sich beansprucht. Nur auf dieser Basis ist es überhaupt
möglich, dass Literatur zum noch offenen Zivilisationsprozess beiträgt –
und sei dieser Beitrag noch so gering. Enno Stahl
## Alles kann umgedeutet werden
Schon die Aneignung des Begriffs Sozialismus durch die Nationalsozialisten
macht deutlich: Kein Begriff, egal wie fest er in linker Tradition, in
linken Gesellschaftsentwürfen und -kritiken verankert ist, kann aus sich
selbst heraus rechten Umdeutungsversuchen widerstehen. Die Begriffe sind
glitschig, gleiten aus den Händen und selbst wenn wir versuchen, sie mit
ausgefeilten Definitionen an die Wand zu nageln, entwinden sie sich und
stellen uns hinterrücks ein Bein. Der Verrat lauert vor allem da, wo wir
meinen, uns mit den richtigen Begriffen einen sicheren Boden unter den
Füßen gebaut zu haben. Wir neigen dazu zu vergessen: Die zentralen linken
Begriffe brauchen eine Bewegung, eine Praxis, eine dauernde Diskussion und
historische Reflexion, die sie konkret machen, um ihre Bedeutung streiten
und immer wieder an die Situation anpassen. Sie stellen nicht an sich schon
eine Absicherung oder Versicherung dar.
Darin sind sie den materiellen Dingen ähnlich: Kein Basecap, kein Button,
kein Stoffbeutel, kein Markenschuh und sei er noch so fair produziert, kann
die richtige politische Praxis garantieren. Wir sind nicht sauber, nicht
fest, nicht einig und nicht unangreifbar. Selbst die „richtige“ politische
Praxis von heute kann sich, sofern wir aus ihr zu lernen bereit sind,
morgen als falsch herausstellen. Nicht mal das Label „links“ bedeutet, dass
sich darunter nicht auch rassistische, antifeministische, nationalistische,
neoliberale oder autoritäre Strömungen verorten könnten. Dass richtige
Demokratie nicht vierjährige Stimmabgabe bedeutet, dass eine wirkliche
Alternative eine Alternative zu und nicht für Deutschland ist, dass
wirkliche Freiheit nicht den Individualismus des privaten Konsumenten auf
dem „freien“ Markt sondern basisdemokratische Selbstorganisation meint, das
steckt nicht in den Begriffen drin, sondern das wird erstritten durch ihren
Gebrauch, durch diejenigen, die sprechen und vor allem widersprechen. Luise
Meier
## Rechte Alternative
In der deutschen Politik taucht der Begriff erstmals 1978 mit der Gründung
der „Alternativen Liste“ auf – 2013 wird er von der „Alternative für
Deutschland“ gekapert. Zur Zeit der Finanzkrise meinte er, als Gegen- und
Kampfbegriff zu Merkels Aussage, der EU-Rettungsschirm sei alternativlos,
noch konkret die Rückkehr zur D-Mark. Davon ist längst nichts mehr übrig.
Stattdessen hat sich das Wort zu einer Art rechtem bis neonazistischem
Politik-Emoji entwickelt. Es dient als Klammer und Platzhalter für alle
schwulen-, lesben-, migranten-, islam- und demokratiefeindlichen, alle
nationalistischen bis völkischen Stimmungen.
Es ist nicht weiter verwunderlich und Teil neurechter Metapolitik, die
Sprache in Richtung Emotionalisierung aufzuweichen. Es ist aber auch nicht
neu und wird keineswegs nur von rechten Populisten gepflegt. Bernd
Stegemann hat in „Das Gespenst des Populismus“ 2017 gezeigt, dass dem
rechten ein liberaler Populismus vorhergeht: „Yes we can“ – „Wir schaff…
das“ sind prominente Beispiele dafür. Auch die Werbung arbeitet seit
Jahrzehnten erfolgreich mit Affektaufladungen und der Produktion von
Lebensgefühlen. Die Wirksamkeit dieser rhetorischen Taktiken hat sich mit
der Digitalisierung massiv verschärft. Schon zu Zeiten der „Alternativen
Liste“ spielte die Emotionalisierung politischer Haltungen eine Rolle. Es
ist kein Zufall, dass Akteure der „Identitären Bewegung“ sich aus dem
Fundus von Happening-Strategien bedienen.
Politik mittels Produktion von Gefühlen zu machen, ist keine Erfindung der
Rechten. Diese beweist nur, wie gefährlich Stimmungspolitik werden kann und
schon geworden ist. Es darf nicht länger um emotionalisierende
Kampfbegriffe gehen. Es gilt, der rechten Demagogie mit kritischer Analyse
und vor allem mit politischen Programmen zu begegnen: zum Beispiel, welche
Maßnahmen zu ergreifen wären, um die neoliberale Ökonomie wieder der
politischen Kontrolle zu unterwerfen. Norbert Niemann
## Probier’s mal mit Gemütlichkeit
Alternative so lustig wie Österreich: Während wir 2019 im Eurodancetrott
noch gen Insel schippern, schon das mittelgroße Fragezeichen, was geht, was
bleibt was davon in Erinnerung bleibt und welche Möglichkeitsräume sich in
Abgrenzung zur konstanten Politik der Aus- und Abgrenzung kollektiv denken
lassen. Aber Denken ist ja leider immer so anstrengend. Na, dann lieber
einheimeln im Flausch, und wenn schon kein komplett flauschiges Gefühl,
dann wollen wir zumindest bessere Aussichten, die Aussicht auf so was wie
eine Alternative zum Beispiel, eine Alternative zur längst in der
österreichischen Mitte angekommenen Alternative, und am besten urplötzlich,
am besten mit feinem Zukunftshauch, der nach Popcorn duftet, ein Geruch,
der auch nach dem Abspann unaufdringlich angenehm bleibt. Zum Jahreswechsel
werden als staatstragender Akt der neuen Bundesregierung alle Angstpraxen
geschlossen. Bequem auf der sicheren Seite, Gefahr gebannt. Die Allianz für
Österreich betrachten, bisschen lachen, alternative Alternative sein. Ist
ja sonst keiner da. Problem gelöst. Probier’s mal mit Gemütlichkeit.
Entspann dich, atme ein, aus, ein, aus, und jetzt sprich nach, was da
präambelmäßig überm Eingang steht: Österreich ist ein wunderbares Land. Von
rechter Normalisierung als Mainstream zu Heimat- und Umweltschutz als
bessere Aussicht? Und welche Sprache ließe sich dieser Aussicht
entgegensetzen, die sich vermeintlich gegen etwas Bestehendes positioniert
und dabei schön roh bürgerlich dort weitermacht, wo sie in letzter
Koalition aufgehört hat? Gerhild Steinbuch
Was heißt hier Alternative? „Alternative“ als Begriff, heute, 19 Uhr,
Brecht-Haus, Chausseestraße 125, mit Vortrag von Guillaume Paoli.
Moderation: Ingar Solty
4 Mar 2020
## AUTOREN
Enno Stahl
Luise Meier
Norbert Niemann
Gerhild Steinbuch
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