# taz.de -- Die ungesehene Avantgardistin | |
> Dass Hilma af Klint ein zentraler Platz im Kanon des 20. Jahrhunderts | |
> gebührt, wurde lange übersehen. Die Kunstkritikerin Julia Voss legt nun | |
> die definitive Biografie über die Erfinderin der abstrakten Malerei vor | |
Bild: Hilma af Klint in ihrem Studio 1895. 1906, und damit fünf Jahre vor Kand… | |
Von Christiane Meixner | |
Streit um den Nachlass, überforderte Erben, oder ein Partner, der | |
eifersüchtig über das Werk wacht: Es gibt viele Gründe, die das Werk von | |
Künstlerinnen und Künstlern nach ihrem Tod unsichtbar machen. Bei Hilma af | |
Klint waren es zwei unscheinbare Zeichen. „+ “ steht in ihrem Notizbuch aus | |
den frühen dreißiger Jahren neben allen Bildern, denen sie eine postume | |
Ausstellungspause verordnet. | |
So gesehen wäre die Schwedin selbst dafür verantwortlich, dass sie nicht | |
als erste abstrakte Malerin Geschichte schrieb. Wer seine Kunst | |
wegschließt, der wird halt übersehen. Doch genau das hat Hilma af Klint | |
ihre gesamte künstlerische Karriere lang erlebt, bis sie schließlich 1944 | |
wenige Tage vor ihrem 82. Geburtstag starb. Die Zeit war noch nicht reif | |
für ihre ungegenständlichen Großformate, und der Wegschluss resultiert aus | |
der Erfahrung jahrzehntelanger Ignoranz. Man muss es der Künstlerin hoch | |
anrechnen, dass sie trotzdem bis zum Schluss auf ein gereiftes Publikum | |
vertraut, das irgendwann in der Zukunft in ihre Welt einzutauchen vermag. | |
## Kunstgeschichte neu schreiben | |
Julia Voss, Jahrgang 1974, zählt zu den frühen Versteherinnen von Hilma af | |
Klint. Als das Moderna Museet in Stockholm 2013 eine Retrospektive | |
veranstaltete und einen Platz für die Künstlerin im Kanon des 20. | |
Jahrhunderts beanspruchte, reichte das Urteil vieler Experten nicht weiter | |
als zu af Klints Lebenszeiten. Eine Malerin, die schon 1906 und damit fünf | |
Jahre vor Wassily Kandinsky Abstraktes auf die Leinwand brachte? Unmöglich. | |
„Ihre frühe abstrakte Malerei ist häufig wie ein Glückstreffer behandelt | |
worden, ein Sechser im Lotto, zufällig und ungeplant“, resümiert die | |
Kunstkritikerin und Wissenschaftshistorikerin Voss. „Im Gegensatz dazu | |
gelten die Gemälde der männlichen Zeitgenossen als das Ergebnis von | |
Leistung und Intellekt.“ | |
Erst mit einer großen Af-Klint-Ausstellung 2018 im New Yorker Guggenheim | |
Museum und dem rekordverdächtigen Besucherstrom setzte die Bereitschaft zum | |
Umdenken ein. Voss hatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schon | |
während der Vorbereitungen im Moderna Museet über „Die Thronstürmerin“ | |
hymnisch berichtet. „Die Kunstgeschichte muss neu geschrieben werden“, | |
lautete damals ihr Fazit. Nun endlich hat sie es geschafft: In ihrem Buch | |
„Die Menschheit in Erstaunen versetzen“ rekonstruiert Julia Voss auf über | |
500 Seiten das Leben der ungesehenen Avantgardistin. | |
Dafür gab sie unter anderem die stellvertretende Leitung des | |
FAZ-Kulturressorts ab, lernte Schwedisch, besuchte diverse Archive und | |
studierte als Fellow des Berliner Wissenschaftskollegs sämtliche | |
Notizbücher der Malerin. Ein Anmerkungs- und Bibliografieregister von | |
nahezu 100 Seiten lässt ahnen, wie tief die Autorin in die Historie gereist | |
ist, aus der Hilma af Klint mit der Wirkung „eines Katapults das Werk nach | |
vorne schleudert, aus der Vergangenheit in die Zukunft“. Doch auch die | |
Malerin selbst verlässt die eigene Gegenwart immer wieder: Ihre Gemälde, | |
die das weibliche und das männliche Prinzip als geistige Hemisphären in | |
ebenso farbkräftigen wie symbolhaften Motiven zusammenführen, sind nicht | |
zuletzt Resultat spiritistischer Sitzungen. | |
Mit den ätherischen Stimmen von Gregor, Lorentz oder Amaliel führt sie – | |
genau wie mit ihren lebenslangen Freundinnen – Gespräche über die Kunst. | |
Noch bevor sich Hilma af Klint in Malkursen überhaupt auf das Studium an | |
der Königlichen Kunstakademie in Stockholm vorbereitet, nimmt sie ab 1879 | |
an ersten Séancen teil. Diese Kommunikation, in der die Künstlerin auf | |
ihrem ungewöhnlichen Weg als alleinstehende, visionäre Malerin bestärkt | |
wird und über das jeweilige Medium sogar konkrete Motive wie den Nautilus | |
vermittelt bekommt, sind existenziell für sie. | |
## Oft kommt ein „vielleicht“ vor | |
Den damals populären Spiritismus klammert Julia Voss in ihrer Biografie | |
ebenso wenig aus wie die Bewunderung von Hilma af Klint für Rudolf Steiner, | |
den Begründer der Anthroposophie. Es sind lange Passagen über die | |
wechselnden Zirkel geworden, und manches liest sich trotz der mehrfach | |
preisgekrönten Sprache der Autorin ganz schön zäh. Andererseits liegen mit | |
diesem Buch zum ersten Mal so viel Informationen vor, das es zum | |
Standardwerk über Hilma af Klint avancieren wird. Obwohl die Malerin ihren | |
Nachlass nicht bloß geregelt, sondern ihn auch manipuliert hat. | |
Voss beginnt ihre Einleitung damit, dass die Künstlerin Teile der eigenen | |
lebenslangen Aufzeichnungen im Garten verbrennt. Die Szene ist fiktiv, die | |
Vernichtung Tatsache: af Klint führte über alles Buch und erwähnt auch | |
dieses Kapitel. Zum Spiritismus hat sie sich ebenso bekannt wie zu der | |
schmerzhaften Einsicht, dass sich der allen übersinnlichen Phänomenen | |
abgeneigte Steiner kein bisschen zu ihrer Kunst hingezogen fühlte – obwohl | |
sie mit einem aufwendigen Koffermuseum voll Abbildungen ihrer Arbeiten ins | |
schweizerische Dornach, also ins Zentrum der Anthroposophischen | |
Gesellschaft, reiste. Die Kontrolle über ihre Biografie aber ließ sich die | |
inzwischen 70-Jährige nicht nehmen. | |
Sie bestimmte, welche Dokumente für die Nachwelt überlebten. Weshalb Julia | |
Voss die Lücken nun adverbial füllen muss. „Vielleicht“ kommt auffallend | |
häufig vor und lässt einen zwischendurch stutzen: Funktioniert eine | |
glaubwürdige Biografie mit so vielen von der Autorin fantasievoll gefüllten | |
Leerstellen? Doch, wir sollten ihr nach all den intensiven Jahren im | |
Umkreis von Hilma af Klint, ihrer Beschäftigung mit der Familiengeschichte | |
und den noch lebenden Nachfahren, vertrauen. Ihre Biografie ist ganz zu | |
Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, im Bereich Sachbuch | |
und Essayistik. | |
7 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Christiane Meixner | |
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