# taz.de -- Doch in der Nacht kommt ein Bär | |
> Ein großer Appetit auf Bilder des Unwahrscheinlichen: „Siberia“ von Abel | |
> Ferrara (Wettbewerb) | |
Bild: Clint, gespannt | |
Von Carolin Weidner | |
„Glaubst du wirklich, du wirst deine Seele hier finden?“, raunt es aus dem | |
Gewässer. Ein Kopf mit Sonnenbrille spiegelt sich auf der Wasserfläche, er | |
sieht etwas lädiert aus und Clint (Willem Dafoe) unterhält sich mit ihm. In | |
einer Höhle, in der gerade – unmöglicherweise – eine Sonne am Horizont | |
erschienen ist, sucht Clint nach Antworten. Und die, die ihm dieser Kopf | |
hier präsentiert, passen ihm nicht. | |
So wie in „Siberia“, Abel Ferraras Berlinale-Wettbewerbsbeitrag, ohnehin | |
kaum etwas passen möchte. Jedenfalls dann nicht, wenn man einen Film | |
erwartet, der von einer Welt erzählt, wie man sie mit Augen und Ohren | |
erfassen kann. Fast erscheint einem „Siberia“ wie eine Halluzination. Man | |
könnte glauben, nach einem langen Kinoabend in aufwühlende Träume gefallen | |
zu sein. Wer kürzlich „Tommaso“, Ferraras letzten Film, gesehen hat, kennt | |
das schon. | |
Seit sechs Jahren hatte Tommaso, ebenfalls Willem Dafoe, keinen Tropfen | |
Alkohol angerührt, probierte sich an einem aufgeräumten Leben mit seiner | |
kleinen Tochter und seiner jungen Frau (Cristina Chiriac), vollführte | |
spektakuläre Yoga-Übungen und scheiterte letztlich doch an einer alles | |
zerfressenden Spannung, bestehend aus Eifersucht, Angst und tiefem Groll. | |
Keine der zahlreichen inhalierten Weisheitslehren und kein Treffen mit den | |
Anonymen Alkoholikern vermochten daran etwas zu ändern. So war „Tommaso“ | |
eine skizzenhaft hingeworfene Studie eines äußerlich geordneten, aber | |
innerlich zerwühlten Mannes. Virtuos wie lapidar inszeniert, hielt der Film | |
im Reich der Sprache nach Seelenfrieden für Tommaso Ausschau. | |
„Siberia“ stellt dem Unterfangen opulentes Bildmaterial zur Seite. Und | |
Alkohol. Clint nämlich ist zunächst in einer Bar anzutreffen, eine | |
eingeschneiten Hütte in eisiger Ödnis, in die sich immer mal jemand | |
verirrt. Einmal kommt eine sehr alte Frau mit einer Schwangeren (Cristina | |
Chiriac). Nach einigem Wodka nimmt Clint Kontakt zum Ungeborenen auf, | |
presst sein Gesicht an den großen Bauch. Doch in der Nacht werden die | |
Frauen von Bären überfallen, der Körper der Schwangeren liegt ausgeweidet | |
am Boden. | |
Vielleicht ist dies der Auftakt in Clints fiebertraumhaftes Abenteuer, das | |
ihn in die Wüste zu Nomaden schickt, zu Schwarzmagiern und Schamanen. Auch | |
zu seinem Vater, einem Doktor, der Clint sein Skalpell weiterreichen | |
möchte. „Wo ist der Doktor?“, schallt ein Singsang durch eine andere Höhl… | |
in der es Gehängte gibt und nackte Frauen. Clint begegnet dem Vater noch in | |
Gestalt von Cowboy- und Comic-Figuren. Der erwachsene Sohn will ein Chaos | |
in seinem Kopf bewältigen, das sich nach eigenen Regeln sortiert. | |
Abel Ferrara, Jahrgang 1951, sagt, er verspüre noch immer einen großen | |
Appetit darauf, was Kino alles sein könne. Momentan ist dieses Kino Willem | |
Dafoe, auf inbrünstige Weise ahnungslos. | |
25. 2., 15.45 Uhr, 1. 3., 9.30 Uhr, Friedrichstadtpalast; 26. 2., 20.30 | |
Uhr, 7. 2., 12.15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele | |
25 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |