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# taz.de -- Die Gefahr, getilgt zu werden
> Der Katalog „Exil. Erfahrung und Zeugnis“ zeigt, begleitend zur
> Dauerausstellung in Frankfurt am Main, eindrückliche Schicksale von
> Menschen, die vor den Nationalsozialisten flüchten mussten
Von Wilfried Weinke
„Das Exil war nicht nur der Verlust der Heimat: die Gefahr bestand darin,
aus der Wirklichkeit verbannt, in den Köpfen der Leute getilgt zu werden …“
Der Satz stammt von Willy Brandt. Er wusste, wovon er schrieb, als er vom
Umgang mit Widerstandskämpfern und Emigranten in Deutschland berichtete.
In Zeiten massenhafter Emigration und Flucht, verursacht durch
wirtschaftliche Not, lebensbedrohende Kriege und Verfolgung, in Zeiten
strikter Asylpolitik, wo Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass ihre
parlamentarische Vertretung sogar im Bundestag finden, gilt es auf ein
beachtenswertes Katalogbuch zu verweisen, das sich in vortrefflicher Weise
dem Exil widmet. Genauer: jenem Exil, in das seit 1933 etwa 500.000
deutschsprachige Menschen wegen der nationalsozialistischen Diktatur
flohen.
Die vorliegende Publikation „Exil. Erfahrung und Zeugnis“ spiegelt in
konzentrierter Form die gleichnamige, im März 2018 eröffnete
Dauerausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main
wieder. Sie folgt, wie Sylvia Asmus, die Leiterin des „Deutschen
Exilarchivs 1933–1945“ und Herausgeberin des deutsch-englischen Buches,
erläutert, den Hauptkapiteln der Ausstellung: „Auf der Flucht“, „Im Exil…
und „Nach dem Exil“. Eine sinnfällige Strukturierung, die weitere Aspekte
wie Fluchtwege, Arbeit und Beruf, den Erwerb einer neuen Sprache, die
berufliche Neuorientierung aufzeigt sowie Fragen nach den Ursachen der
Flucht, nach möglichen Helfern, nach dem Alltag im Exil, dem Ende des Exils
und den Gründen für eine Rückkehr nach Deutschland stellt.
## „Nirgendwo in Afrika“
Auch wenn das farbig illustrierte Katalogbuch nicht alle 250 Exponate der
Dauerausstellung präsentieren kann, sich auf 75 Dokumente, Fotografien,
Objekte beschränkt, wird bei der Lektüre schnell deutlich, dass jede
verallgemeinernde Rede von dem Exil, der Exilantin, dem Exilanten unmöglich
ist. Es ist vielmehr vonnöten, nach den individuellen Bedingungen,
Möglichkeiten und Hindernissen der jeweiligen Emigration und des Exils zu
fragen.
Zur Veranschaulichung präsentiert das Buch acht höchst unterschiedliche
Biografien, die von Clementine Zernik (1905–1996), von Fritz Neumark
(1900–1991), Frederick R. Eirich (1905–2005), Adolf Moritz Steinschneider
(1894–1944), Stefanie Zweig (1932–2014), Hubertus von Löwenstein
(1906–1984), Margarete Buber-Neumann (1901–1989) und Ernst Loewy
(1920–2002).
Alle Biografien – bis auf die Adolf Moritz Steinschneiders, der von
Soldaten, die auch das Massaker von Oradour verübten, ermordet wurde,
reichen bis in unsere jüngste Vergangenheit. Claudine Zernik floh aus Wien
in die USA, wo sie aber nicht mehr als Rechtsanwältin arbeiten konnte. Der
Finanzwissenschaftler Fritz Neumark verlor 1933 seine Professur in
Frankfurt und emigrierte in die Türkei. Der Chemiker Frederick E. Eirich
floh aus Österreich nach England, war zeitweilig in Australien interniert,
um nach Kriegsende in die USA zu gehen.
Die fünfjährige Stefanie Zweig gelangte mit ihren Eltern 1938 nach Kenia.
Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1947 wurde sie einem größeren
Lesepublikum durch ihren Roman „Nirgendwo in Afrika“ (1995) bekannt. Der
Journalist und Politiker Hubertus Prinz zu Löwenstein emigrierte in die USA
und gründete die „American Guild for German Cultural Freedom“. Margarete
Buber-Neumann überlebte die stalinistische Verfolgung in der Sowjetunion
und später auch das Frauen-KZ Ravensbrück. Als 16-Jähriger emigrierte Ernst
Loewy nach Palästina, kehrte 1957 nach Deutschland zurück und wurde
Mitbegründer der „Gesellschaft für Exilforschung“.
All diese Biografien sind großzügig wie vorzüglich illustriert.
Ausklappbare Seiten erweitern das Informationsangebot, prägnante Zitate
kommentieren die Lebensläufe. Den Abschluss bildet jeweils ein „Blick ins
Archiv“, der auf den Umfang des jeweiligen Nachlasses im Frankfurter
Exilarchiv verweist.
Unter den zumeist sachlich-nüchternen Exponaten finden sich auch anrührende
Schaustücke, wie jene Abbildung eines unscheinbaren Säckchens, das der
Rechtsanwalt Walter Zweig mit nach Kenia nahm. Es trägt die Aufschrift
„Erde vom Grabe meiner lieben Mutter“. Heute, wo der vermeintliche
Patriotismus fröhliche Urständ feiert, das Wort Heimat inflationär
gebraucht wird, empfiehlt sich dieses liebevoll gestaltete Buch der
intensiven Lektüre. Es erinnert auf jeder Seite daran, dass die
Heimatvertreibung lange vor den lautstarken Gefühlsaufwallungen der
Heimatvertriebenen begann, nämlich an jenem Tag, als Hindenburg Hitler die
Macht übergab.
Sylvia Asmus (Hg.): „Exil. Erfahrung und Zeugnis“. Katalog zur
Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945, Wallstein Verlag,
Göttingen 2019, 232 S., 24,90 Euro
3 Feb 2020
## AUTOREN
Wilfried Weinke
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