Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Verrücktes“ Kanalprojekt für Istanbul: Das Land ihrer Spekul…
> Der umstrittene Kanal Istanbul ruft in der türkischen Bevölkerung
> Widerstand hervor. Die Makler verkaufen derweil Grundstücke am
> zukünftigen Ufer des Kanals.
Bild: Der Kanal Istanbul soll entlang der Sazlıdere-Talsperre verlaufen
“Das hier ist nichts für Sie,“ sagt Murat Özçelik zu Sedat Atalay. Atalay
ist Lehrer und auf der Suche nach einem Grundstück, wo er sich später in
seiner Rente in Ruhe der Gartenarbeit widmen kann; Özçelik ist Makler und
verkauft Grundstücke in der Umgebung der Sazlıdere-Talsperre, an der
entlang der Kanal Istanbul verlaufen soll. Dass der umstrittene Kanal
Istanbul wieder an Brisanz gewonnen hat und somit auch die
Grundstückspreise gestiegen sind, ist für ihn eine glückliche Fügung. Sein
Büro liegt in Kayabaşı, einer Ortschaft östlich von Sazlıdere.
Im vorderen Teil des Büros hängt ein riesiger Stadtplan von Yenişehir, auf
Deutsch: Neustadt. Die Vorstellungen über die zukünftige Einwohnerzahl
dieser Planstadt schwanken zwischen 500.000 und 2 Millionen, manche
sprechen sogar von 7 Millionen. Entstehen soll diese Stadt an den Ufern
eines geplanten Kanals von 45 Kilometern Länge, 350 Metern Breite und 21
Metern Tiefe, der die thrakische Halbinsel zwischen dem Marmarameer und dem
Schwarzen Meer durchqueren soll und somit die Istanbuler Altstadt zu einer
Insel werden lassen würde.
Hinter Özçeliks Schreibtisch füllt die New Yorker Skyline bei Nacht die
komplette Wand, vor der ein stattliches Porträt von Recep Tayyip Erdoğan
und ein riesiger Fernseher hängen. Ein perfektes Setting um den
Kund*innen den Werbefilm über den Kanal Istanbul zu zeigen. Denn Murat
Özçelik weiß, welche Grundstücke eine Zukunft haben. Mit einem Zwinkern und
einem wissenden Lächeln auf den Lippen gibt er Atalay einen Tipp: “Wenn Sie
mich fragen, dann kaufen Sie in Çatalca. Hier gibt es nicht mehr viel zu
holen. Die Zukunft liegt in Çatalca.“
Nach den Vorstellungen des Maklers wird die neu gegründete Stadt rund um
den Kanal eines Tages bis zum 40 Kilometer entfernten Çatalca wachsen. Und
wenn dem so wäre, könnte Sedat Atalay seinen Ruhestand genießen und
gleichzeitig seinen Kindern ein Grundstück mit steigendem Wert
hinterlassen. Eines Tages werde die Gegend um Sazlıdere eine riesige Stadt
mit Wolkenkratzern, Shopping-Centern und Autobahnen sein, erklärt Özçelik
mit großer Überzeugung. Deswegen sei das hier auch nicht das Richtige für
den Ruhestand des Lehrers.
## Nichtssagende Spekulationen
In der Hochglanzbroschüre, die überall in Stapeln ausgelegt ist, steht auf
der dritten Seite in großen Buchstaben: “Wussten Sie schon, dass mit dem
Beschluss Nummer 2014/6048, der am 30. April 2014 im Amtsblatt bekannt
gegeben wurde, die Agrarflächen zur Bebauung freigegeben wurden?“ Ein Foto
dieses Beschlusses ist ebenfalls in der Broschüre abgedruckt. Die
Unterschriften unter dem Gesetzestext stammen von dem damaligen Präsidenten
Abdullah Gül, Recep Tayyip Edoğan, damals noch Ministerpräsident sowie dem
ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Ali Babacan, der gerade
damit beschäftigt ist, eine neue Partei zu gründen.
Die erste offizielle Erklärung zum Bau eines künstlichen Kanals westlich
des Bosporus kam von Erdoğan höchstpersönlich, und zwar schon im April
2011. Damals bezeichnete er das in seinen eigenen Worten „verrückte
Projekt“ als seinen “größten Traum“, mit dem nicht nur der Schiffsverke…
auf dem Bosporus verringert werden, sondern auch die damit verbundene
Unfallgefahr auf ein Minimum reduziert werden sollte. Nach Angaben der
Küstenwache ist jedoch die Anzahl der Durchfahrten in den vergangenen zwölf
Jahren um mehr als ein Viertel gesunken. 2018 haben 41.000 Schiffe den
Bosporus durchquert, 2006 waren es noch 54.000.
Gemäß dem Meerengen-Abkommen von 1936 sollen Schiffe den Bosporus
kostengünstig passieren können. Warum also sollten Schiffe durch einen neu
gebauten und engen Kanal fahren, der dazu noch mehr Geld kostet? Trotzdem
geht der Verkehrsminister Mehmet Cahit Turhan davon aus, dass der
Schiffsverkehr auf dem Kanal Istanbul einen jährlichen Gewinn von mehr als
einer Milliarde Dollar bringen würde. Kürzlich deutete er in einer
Presseerklärung sogar an, dass der Gewinn auf bis zu fünf Milliarden Dollar
steigen könnte, wenn mehr als 50.000 Schiffe den Kanal jährlich passieren
würden.
Doch eigentlich sind diese Spekulationen über den Gewinn eines Bauvorhabens
nichtssagend, wenn dessen Kosten noch nicht einmal feststehen. Im Bericht
der Umweltverträglichkeitsprüfung werden 12,7 Milliarden Dollar angesetzt,
das Verkehrsministerium spricht von 20 Milliarden und der Verkehrsminister
selbst von 25 Milliarden.
## Ein postmodernes Disneyland
Dass trotz all dieser Ungewissheiten bereits Grundstücke in der Gegend
verkauft werden, erweckt Zweifel, ob der Kanal Istanbul wirklich für den
Schiffsverkehr gebaut werden soll oder ob es nicht eigentlich darum geht,
neues Bauland zu schaffen.So wird auch im offiziellen Werbefilm des
Bauvorhabens die Geschichte eines Immobilienprojekts erzählt. Auch die
Werbefilme anderer Firmen zeichnen kein Bild von einem internationalen
Infrastrukturprojekt, sondern zeigen ein postmodernes Disneyland mit einem
dekorativen Kanal.
Dass die Region für die Bebauung erschlossen werden kann, wurde im August
2012 vom türkischen Kabinett beschlossen. Durch den Beschluss wurde eine
Fläche von 32.500 Hektar nordwestlich von Istanbul zu einem “städtischen
Entwicklungsraum für Katastrophenschutz“ erklärt. Von einem „Kanal
Istanbul“ war in dem Beschluss keine Rede. Die Überarbeitung von 2014
zielte weniger auf die Vergrößerung des Katastrophenschutzgebiets ab als
auf die Umwandlung von landwirtschaftlichen Flächen zu Bauland.
Die Istanbuler Stadtverwaltung wurde nicht in die Planung einbezogen.
Zugleich widerspricht dieser Beschluss dem Umweltplan der Stadt von 2008,
der die Region als Trinkwasser- und Naturschutzgebiet sowie für die
landwirtschaftliche Nutzung und ländliche Besiedlung vorsieht.
Daten des Türkischen Instituts für Datenverarbeitung Tuvimer an der Yıldız
Teknik Üniversitesi zeigen den Umfang der Bauvorhaben auf. Laut einer
Untersuchung von Tuvimer haben sich die zum Verkauf stehenden Grundstücke,
die sich auf den Wasserreservegebieten befinden, zwischen 2014 und 2016
verdoppelt. So wurden 2014 rund 59.000 Grundstücke zum Verkauf angeboten,
2016 waren es knapp 125.000. Laut der Studie besaßen die Grundstücke in den
Wasserschutzgebieten, die zum Verkauf angeboten wurden, 2014 ein
Handelsvolumen von knapp neun Milliarden Dollar. 2016 stieg dieser Wert auf
knapp 25 Milliarden Dollar.
Informationen über den Umfang und den Ursprung dieser Investitionen zu
bekommen, ist nicht einfach. Nachdem die Istanbuler Stadtverwaltung im
Dezember die Besitzverhältnisse in der Region offengelegt hatte, muss man
nun nach einer Intervention des Katasteramts eine Erlaubnis vom Ministerium
einholen, um Informationen zu einem Grundstück zu bekommen.
## Mehr als 100.000 Istanbuler legen Beschwerde ein
Glaubt man Murat Özçelik, dann sind die Grundstückspreise in den
vergangenen zehn Jahren immer dann nach oben gegangen, wenn Erdoğan über
sein „verrücktes Projekt“, den Kanal Istanbul gesprochen hat. “Ich glaube
an Erdoğan und der hält sein Wort“, sagt er und lächelt. Dann erzählt er,
dass auch schon einige Erdoğan-Gegner bei ihm Grundstücke gekauft hätten.
Seine Unterstützung für Erdoğan erklärt Özçelik mit seinem Glauben, dass
durch den Kanalbau die Wirtschaft angekurbelt werde.
Der Kanal Istanbul ruft in der Bevölkerung weit mehr Widerstand hervor als
frühere Projekte der AKP wie der dritte Flughafen und die dritte
Bosporusbrücke, die trotz großer Proteste verwirklicht wurden. Mehr als
100.000 Bürger*innen standen Ende Dezember vor den zuständigen Behörden
des Ministeriums für Umwelt und Stadtentwicklung Schlange, um gegen den
Bericht der Umweltverträglichkeitsprüfung Beschwerde einzureichen.
Auch die Istanbuler Regierung, die seit den Kommunalwahlen im vergangenen
Jahr in den Händen der Opposition ist, hat Ende 2019 eine
Kooperationsvereinbarung mit dem Ministerium aufgekündigt.
Oberbürgermeister İmamoğlu hat sogar ein Referendum über das Projekt
vorgeschlagen. Auf einer Konferenz der Istanbuler Stadtverwaltung mit mehr
als 3.500 Teilnehmer*innen diskutierten am 10. Januar
Wirtschaftswissenschaftler*innen, Ingenieur*innen und
Oppositions-Politiker*innen über den Kanal Istanbul.
Ein ganz anderes Thema sind die ökologischen Auswirkungen des Kanals. Wenn
der Kanal tatsächlich gebaut wird, wird die Sazlıdere-Talsperre
verschwinden, die ein Zehntel der Wasserspeicherkapazität von Istanbul
ausmacht. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Terkos-Lagune versalzt, die
zwei Zehntel der Kapazität liefert. Die Schilfgebiete rund um diese
Gewässer sind zudem wichtige Brut- und Durchzugsräume für heimische Vögel
und Zugvögel.
## Im Erdbeben-Risikobereich
Der Bau des Kanals würde dieses ganz besondere Ökosystem unwiederbringlich
zerstören. Auch scheint die geologische Beschaffenheit der Region gar nicht
geeignet für einen solchen Kanal. Im Fall eines Erdbebens ist die Gefahr
von Erdrutschen und Versumpfung immens. Eine Bebauung der Region würde das
Risiko weiter erhöhen.
Was ist der Nutzen dieses Projekts, dessen Kosten und Risiken so hoch sind?
Es gibt keine Antwort auf diese Frage.
Die Unterhaltung im Maklerbüro in Kayabaşı hat unterdessen einen anderen
Ton angenommen. Makler Özçelik, demzufolge Istanbul das einzige
wirtschaftlich relevante Zentrum und eine weitere Verdichtung deshalb
unvermeidlich ist, lässt auch seine eigenen Absichten durchblicken:
Eigentlich sei Istanbul am Ende und auch ihn werde hier nichts halten. Sein
Ziel ist es, noch für die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre Grundstücke
hier zu verkaufen, und dann, wenn er genug gespart hat, in sein Dorf im
Nordosten der Türkei zurückzukehren, um dort in Ruhe zu leben.
Aber was ist, wenn der Kanal doch nicht gebaut wird und eine Bebauung der
Flächen nicht genehmigt wird? Was wird dann aus denen, die in die Äcker
hier investiert haben?
“Investieren heißt immer auch riskieren. So viel sollten die Leute davon
verstehen,“ antwortet Murat Özçelik ruhig.
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
20 Jan 2020
## AUTOREN
Orhan Esen
## TAGS
taz.gazete
Politik
Türkei
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neue Partei von Ali Babacan: Alternative für die Türkei
Eine Gruppe von AKP-Abspaltern um Ali Babacan will eine Alternative zur
Regierungspartei anbieten. Das könnte Erdoğan tatsächlich gefährlich
werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.