# taz.de -- Von machtgierigen Ventilatoren | |
> Am vergangenen Freitag wurde der Neuköllner Kunstpreis 2020 verliehen. | |
> Die Galerie im Saalbau zeigt nun die Arbeiten der Künstlerinnen in einer | |
> Gruppenausstellung – und damit den Bezirk in seiner Weltläufigkeit | |
Bild: Nicht auf dem Siegertreppchen, trotzdem zu sehen in der Galerie im Saalba… | |
Von Jan Bykowski | |
„Lebt und/oder arbeitet in Neukölln“: das ist die wichtigste Voraussetzung, | |
um für den Neuköllner Kunstpreis in Betracht zu kommen. Und so waren die | |
170 eingereichten Beiträge des diesjährigen Wettbewerbes in fast allen | |
anderen Punkten dann auch recht unterschiedlich. Die Ausgezeichneten haben | |
aber wie in den vergangenen Jahren eine Gemeinsamkeit: alle sind Frauen. | |
Wobei die Frage erlaubt sei, wann das nicht mehr auffällig sein wird. | |
Die Arbeiten und die Biografien der Preisträgerinnen stehen für die | |
Vielfalt des Bezirks. Und um die geht es dem Bezirksamt bei der Ausrichtung | |
des Wettbewerbes. | |
6.000 Euro werden auf drei Plätze aufgeteilt, die Hälfte geht an den ersten | |
Platz. Den belegt Catherine Evans mit ihrer Installation „Standing | |
Stone“. Die Australierin kam nach ihrem Abschluss am Victorian College of | |
the Arts in Melbourne schon einmal nach Berlin, kehrte dann aber nach | |
Melbourne zurück. Das George-Mira-Stipendium ermöglichte ihr dort einen | |
zweijährigen Arbeitsaufenthalt mitsamt Büro. Sie begann, sich mit der | |
Erforschung eines Berges durch viktorianische Wissenschaftler und die Sicht | |
indigener Menschen auf denselben Berg zu befassen. In Australien | |
realisierte sie bereits 2014 eine frühe Version der Arbeit „Standing | |
Stone“, damals noch mit deutlichem Bezug auf eine von Indigenen aus Steinen | |
angelegte Sternenkarte in Western Victoria. | |
Jetzt ist Evans wieder in Neukölln. Die eigene Verortung in einem weiten | |
Raum ist das Thema ihrer aktuellen Version von „Standing Stone“, die das | |
ganz Große und das Persönliche zueinander in Beziehung setzt. An der Spitze | |
von Stangen angebrachte Steine erinnern in der Galerie im Saalbau an | |
frühzeitliche Versuche, die Sterne mithilfe von Hinkelsteinen zu | |
kartografieren. An der Wand aufgestellt und in bestimmter Weise im | |
Zusammenspiel mit ihren Schatten fotografiert, rufen sie Assoziationen an | |
Aufnahmen wach, die mithilfe moderner Teleskope entstanden sein könnten. | |
Tatsächlich folgt die Anordnung aber keinen interstellaren Ordnungen, | |
sondern bildet das Muster von Muttermalen auf dem Rücken der Künstlerin ab. | |
Mikro- und Makrokosmos werden hier im Verhältnis zueinander abgebildet. Das | |
sich zwischen diesen Polen ergebende Gleichgewicht, dargestellt in ebenso | |
differierenden Techniken, hat die achtköpfige Jury überzeugt. | |
Den zweiten Preis vergab sie an eine kinetische Skulptur von Jinran Ha. Die | |
gebürtige Südkoreanerin hat nach Aufenthalten in Seoul und London auch in | |
Dresden studiert und ist seit 2015 in der Klasse von Ursula Neugebauer an | |
der Universität der Künste. Alltagsgegenstände aus Massenproduktion sind | |
das Material ihrer Installationen. Mit der Frage nach dem Individuum | |
formuliert sie Fragen nach Identität und dem Funktionieren oder der | |
Funktionalisierung des Einzelnen in sozialen und politischen Systemen. | |
„Zwei Machthabende und 98 Individuelle“ sind in ihrer Arbeit 98 | |
Kleiderbügel auf einer Stange, die von zwei machthabenden Ventilatoren hin | |
und her und gegeneinander bewegt werden. Die Ironie ist fein, die von den | |
Machthabenden getriebenen Kleiderbügel schrammen am Klamauk vorbei und | |
können in ihrer Hilflosigkeit echtes Mitleid auslösen. | |
Vanessa Enriquez hat an der Universidad Iberoamericana in Mexico-Stadt und | |
an der Yale University School of Art studiert und wie auch die anderen | |
Preisträgerinnen die Jury in Neukölln mit einer Installation für sich | |
gewonnen. Das fast vergessene VHS-Magnetband ist ihr Material, mit dem sie | |
den Durchgang in einen Nebenraum der Galerie im Saalbau wieder aufnimmt. | |
Die in „Variations on Line n. 8“ nebeneinander angeordneten Streifen bilden | |
auf dem Boden einen Kreisbogen, von dem aus sie zu einem Rechteck in Form | |
und Größe des gegenüber liegenden Durchgangs an der Wand führen. Auf dem | |
Weg dorthin spannen sie eine Art Zelt aus Videobändern auf, in dem sich ein | |
Moiré-Effekt zeigt, bekannt von klein karierten Sakkos im Fernsehbild, auf | |
denen sich neue Linien und Formen zu bilden scheinen. In Enriquez’ Arbeit | |
meint man durch diesen Effekt in dem Zelt aus Videobändern weitere Figuren | |
zu erkennen, während der eigentlich auf den Bändern gespeicherte Inhalt | |
ohne Abspielgerät unerkennbar bleibt. Eine spannende Erkundung von Gestalt, | |
die sich in den Medien verloren zu haben scheint. Zusätzlich eine | |
Erinnerung, dass die Op-Art noch etwas kann – und auch alte VHS-Bänder noch | |
zu etwas nutze sein können. | |
Es macht Freude, anhand der Kunst zu sehen, welche Vielfalt sich in | |
Neukölln zusammengefunden hat und den Kiez ausmacht. Der Kunstpreis hat | |
auch in seiner vierten Auflage seine Mission erfüllt. | |
Neuköllner Kunstpreis 2020: Gruppenausstellung bis 29. 3. in der Galerie im | |
Saalbau | |
30 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Bykowski | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |