Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- hörbuch: Leichenteile im Briefkasten
Mexiko-Stadt, 2004: Fernanda und ihre Freundinnen planen ihren
Sommeraufenthalt in Italien. Aufgekratzt singen sie Italopoplieder, die
allen in den 1980ern sozialisierten Hörer*innen in schmerzhafter Erinnerung
sein dürften. Sie veranschaulichen die überkandidelte Sorglosigkeit von
Fernanda, der Enkelin des wohlhabenden Geschäftsmanns und
Familienoberhaupts José Victoriano Arteaga – und ihrer Clique. Bereits
unter dieses launige Gewusel mischt sich wie ein Geist die Stimme des
Familienpatriarchen José (sachlich und zugleich Unheil heraufbeschwörend
gesprochen von Christian Redl). Sie kündet davon, dass es mit dem Dolce
Vita bald vorbei sein wird.
Denn als Fernanda nach Hause kommt, informiert ihr Dienstmädchen sie, dass
José verschwunden ist – an ein Verbrechen will sie aber zunächst nicht
glauben. Mit diesem Cliffhanger endet die erste, 15-minütige Folge der
achtteiligen Hörspielserie „Denn sie sterben jung“ nach der Erzählung von
Antonio Ruiz-Camacho. Auch als Videopodcast ist die Produktion auf der
Website des NDR zu hören beziehungsweise zu sehen. Das Artwork dafür ist
von Sebastian Stamm, der für jeden der Teile einen anderen Stil gewählt
hat, mal Classic-60s-Cartoon, mal in schnörkelloser Kinderbuchanmutung.
Damit zeichnet er die multiperspektivische Erzählstruktur der Romanvorlage
nach. Auch dort wird in jedem weiteren Teil das Schicksal eines anderen
Familienmitglieds nacherzählt, nachdem sie alle – infolge der Entführung
des Patriarchen – ins US-amerikanische oder europäische Exil gegangen sind.
Zu diesem Schritt entschlossen sie sich, nachdem sie Leichenteile per Post
zugeschickt bekommen hatten. Die Angst, einer von ihnen könnte der oder die
Nächste sein, hat sie zur Flucht aus ihrer von Korruption und Gewalt der
Drogenkartelle verpesteten Heimat bewogen. Wie sehr ihr ganzes Sein vom
Familienoberhaupt geprägt ist, wird durch dessen omnipräsente Kommentare
deutlich, im Videopodcast hervorgehoben durch das Konterfei Josés, das
aufploppt, wenn er das Geschehen kommentiert.
Die Hörspielproduktion dagegen ist stilistisch und akustisch aus einem
Guss. Die von Soundarchitekt Nikolai von Sallwitz entworfene kühle
Geräuschkulisse ist eine verlässliche Konstante; die räumlich entweder
furztrocken produzierten oder mit Hall belegten Stimmen heben die
emotionale Isolation der Protagonist*innen hervor. Regisseur Mathias Kapohl
streicht in seiner Bearbeitung geschickt die Auswirkungen heraus, die die
unfreiwillige Entwurzelung auf die Familienmitglieder hat, er übernimmt den
jeweiligen Sprachduktus der Figuren aus der Romanvorlage: mal manieriert,
mal flotzig, mal liebevoll.
Bisweilen gerät der Ton der Sprecher*innen etwas sehr theatralisch. Das
kann ein Hinweis auf die Lebensferne etwa von Josés Tochter Laura (Susanne
Wolff) sein oder seinen zugedröhnten Enkeln Ximena (Elisa Schlott) und
Homero (Gustav Schmidt), die in Manhattan ihr Dasein fristen. Dennoch lässt
es eine seltsame Distanz zum Gehörten entstehen.
Einen Gegenpol bildet der siebte Teil, dem die große Hanna Schygulla ihren
sprachlichen Stempel aufdrückt. Ihr aus dem Jenseits zugeschaltetes
langjähriges Hausmädchen der Familie spricht stofflich, unmittelbar und
spürbar leidenschaftlich, während das, was sie sagt, eine Abrechnung mit
den verweichlichten Sprösslingen des Clans ist. Dass man mit Spannung bis
zum Schluss die nächste Episode anhört, obwohl klar ist, dass sie nicht auf
der vorherigen aufbaut und es (vordergründig) keinen Spannungsbogen gibt,
das beweist die Klasse dieses Hörspiels. Sylvia Prahl
Antonio Ruiz-Camacho: „Denn sie sterben jung“. 8-teilige Hörspielserie und
Videopodcast, ca. 153 Min., NDR 2020 (www.ndr.de, verfügbar bis 15. 1.
2021)
1 Feb 2020
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.