# taz.de -- Serie: Was von 2019 bleibt: Schleichende Entmachtung | |
> Die türkische Regierung setzt in unliebsamen Kommunen Zwangsverwaltungen | |
> ein. Ein neues Gesetz könnte bald alle Städte und Gemeinden entmachten. | |
Bild: Das Regime Zwangsverwaltungen ist ein Erbe des Ausnahmezustands | |
Die AKP ist seit 17 Jahren an der Macht. Bei den Kommunalwahlen am 31. März | |
hat sie die größte Niederlage dieser Ära erlebt. Nach einem | |
Vierteljahrhundert hat die kemalistische CHP auch mit Hilfe anderer | |
Oppositionsparteien die Städte Istanbul und Ankara gewonnen, die bis dahin | |
von der AKP regiert wurden. Ausschlaggebend war, dass die HDP keine eigenen | |
Kandidat*innen aufgestellt hatte. | |
Auch in den Städten im Südosten, die mit dem Ausnahmezustand 2016 unter | |
Zwangsverwaltung gestellt worden waren, gab es viele Machtwechsel. In 65 | |
dieser Gemeinden hat die HDP gewonnen – besser gesagt: Sie hat die meisten | |
dieser Städte zurückgewonnen. | |
Die Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Am 19. August | |
wurden die kurdisch dominierten Städte Diyarbakır, Van und Mardin unter | |
Zwangsverwaltung gestellt – der Beginn einer Reihe von Amtsenthebungen, die | |
bis heute andauern. Allein in der Vorbereitungszeit dieses Artikels wurden | |
acht weitere Gemeinden unter Zwangsverwaltung gestellt. Insgesamt sind nun | |
32 Städte Zwangsverwaltungen unterstellt. | |
Die HDP verwies von Anfang an darauf, dass die Zwangsverwaltungen das ganze | |
Land und nicht nur die kurdisch geprägten Städte bedrohen. Sezai Temelli, | |
Vizevorsitzender der HDP, bezeichnete sie als eine “sich ausbreitende | |
Krankheit“. Er warnte davor, dass auch die Gemeinden, die von anderen | |
Oppositionsparteien regiert werden, Ziel dieser Politik werden würden, | |
falls Widerstand ausbleibe. Und so ist es nun auch gekommen: Am 17. | |
Dezember wurde mit Urla im Westen der Türkei die erste CHP-regierte | |
Gemeinde einem Zwangsverwalter unterstellt. | |
## Zentralisierung aller Kompetenzen | |
Die Regierung begründet die Zwangsverwaltungen damit, dass die betroffenen | |
Gemeinden Terroristen unterstützen würden. Mit der Erzählung | |
“Terrorbekämpfung durch Zwangsverwaltung“ versucht sie zudem, die | |
nationalistischen Wähler*innen an sich zu binden. | |
Anders als die föderal organisierte Bundesrepublik Deutschland hat die | |
Türkei ein zentralistisches System. Während in Deutschland die Bundesländer | |
gegenüber dem Bund in manchen Bereichen eine vorrangige | |
Entscheidungskompetenz haben, ist das in der Türkei nicht der Fall. Dennoch | |
können die gewählten Gemeindeverwaltungen in der Türkei relativ autonom | |
agieren. Der zentrale Staat ist dazu befugt, darüber zu urteilen, ob die | |
Gemeinden diese Autonomie rechtmäßig ausüben. | |
Die Gemeindeverwaltungen sind aber vor allem auch eine wichtige | |
Profitquelle. Der Verlust von Ankara und Istanbul bedeutete für die AKP | |
insbesondere den Verlust von Geldern, die unter anderem an parteinahe | |
Stiftungen gezahlt werden. Konkret beziffert sich der finanzielle Verlust | |
durch den Verlust beider Metropolen auf 33 Milliarden türkische Lira, knapp | |
fünf Milliarden Euro – die Haushaltsbudgets für das Jahr 2020. | |
## Wege der Entmachtung | |
Gleich nach den Kommunalwahlen erarbeitete die AKP deshalb neue Regelwerke, | |
um die finanziellen Kompetenzen der Stadtverwaltungen einzuschränken. Das | |
Wirtschaftsministerium beschloss am 20. Mai, die Befugnisse über städtische | |
Beteiligungen von den Bürgermeister*innen auf die Gemeindeparlamente zu | |
übertragen, in denen die AKP die Mehrheit innehat. | |
Ein weiteres Beispiel für die Strategie der Entmachtung ist derzeit in | |
Istanbul zu finden. Dort wurden Kompetenzen für die Planung und Kontrolle | |
des Bosporus der Istanbuler Stadtverwaltung und dem neuen Bürgermeister | |
Ekrem İmamoğlu entzogen und einer von Erdoğan gegründeten Kommission | |
übertragen. | |
Auch in der Hauptstadt Ankara greift die Zentralregierung in die Geschäfte | |
der Stadtverwaltung ein. Dort wollte der neue CHP-Bürgermeister Mansur | |
Yavaş eine Personaländerung beim stadteigenen Unternehmen Belko vornehmen. | |
Das Handelsregisteramt, das einem nationalen Ministerium untersteht, | |
verhinderte dies zunächst. Zwar konnte Yavaş die gewünschte | |
Personaländerung später doch vornehmen, ein Beschwerdeverfahren ist aber | |
noch anhängig. | |
Diese punktuellen Eingriffe der vergangenen sieben Monate offenbaren den | |
Wunsch der AKP nach einer grundlegenden Reform der Kompetenzen und ihrer | |
Verteilung zwischen Zentralregierung und Gemeinden – zugunsten der | |
AKP-geführten Zentralregierung. | |
## Logische Konsequenz des Präsidialsystems | |
Dem CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu zufolge plant die AKP mit den | |
Zwangsverwaltungen und den genannten Eingriffen, die Kommunalwahlen | |
vollständig abzuschaffen und die Gemeinden der Zentralverwaltung zu | |
unterstellen. Derzeit arbeite die Regierungspartei am rechtlichen Rahmen | |
für diesen Schritt. | |
Schon die Einführung des Präsidialsystems 2018 war ein erster Hinweis auf | |
das, was nun geschieht. Bereits bei dieser grundlegenden Reform des | |
politischen Systems wurde klar, worum es geht: alle Befugnisse des Landes | |
an Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu übertragen. | |
Die relative Eigenständigkeit der Kommunalverwaltungen kollidiert mit dem | |
Präsidialsystem. Wenn man die Logik des neuen Präsidialsystems auf die | |
gesamte Verwaltungsstruktur der Republik überträgt, bedeutet dies in | |
letzter Konsequenz also, dass [1][gewählte Amtsinhaber von solchen ersetzt | |
werden sollen, die der Präsident ernennt]. | |
In einen Bericht des Innenministeriums vom September 2019, der den Titel | |
“Das Mardin-Modell für die regionale Verwaltung“ trägt, wird angedeutet, | |
wie die Regionalverwaltungen in naher Zukunft aufgelöst werden könnten. | |
Inspektor*innen des Innenministeriums, die in die Stadtverwaltung von | |
Mardin geschickt wurden und den Bericht dann verfasst haben, schlagen darin | |
vor, dass für dieses Ziel zunächst zentral ernannte Gouverneure den | |
regionalen Verwaltungen vorangestellt werden sollen. | |
## Mit einem überflüssigen Gesetz zur Macht | |
Die Politikwissenschaftlerin Fatmagül Berktay kennt den Bericht des | |
Innenministeriums. Sie warnt vor einem “Bankrott der Demokratie“, weil | |
solche Reformen den autoritären Zentralismus stärken und die Forderungen | |
der Bevölkerung außer Acht lassen würden. Rechtlich notwendig dafür ist | |
eine Änderung des Paragrafen 127 der Verfassung, in dem das Verhältnis | |
zwischen den Gemeindeverwaltungen und der Regierung geregelt ist. Eine | |
solche Verfassungsänderung gilt für die nahe Zukunft als unrealistisch. | |
Die AKP möchte im neuen Jahr aber einen Gesetzesentwurf im Parlament | |
einbringen, der die Zuständigkeiten der regionalen Verwaltungen neu regeln | |
soll. Noch sind wenig Details über das Gesetz bekannt. Es gilt aber als | |
sicher, dass damit die Befugnisse der Bürgermeister*innen weiter | |
eingeschränkt werden sollen. Ebenso ist absehbar, dass besonders in | |
Bereichen wie Verkehr, Bauwesen und Infrastruktur, bei denen es um große | |
Investitionen geht, die Befugnisse zukünftig bei der Zentralregierung | |
liegen sollen. Auch die Hoheit über das Budget könnte den | |
Gemeindeverwaltungen genommen werden. | |
Mit dem Gesetz, das derzeit erarbeitet wird, möchte die AKP eine neue | |
Beziehung der Hierarchie schaffen, so der Vorwurf der Kritiker. | |
Der AKP-Politiker Mehmet Özhaseki, der früher selbst Bürgermeister der | |
zentralanatolischen Stadt Kayseri war und bei den letzten Kommunalwahlen | |
erfolglos für das Amt des Bürgermeisters von Ankara kandidiert hat, ist als | |
stellvertretender Vorsitzender der AKP für das neue Gesetz verantwortlich. | |
Den Vorwürfen, dass mit dem neuen Gesetz Gemeinden entmachtet werden | |
sollen, entgegnete Özhaseki im November: „Ich bin prinzipiell dagegen, dass | |
den Stadtverwaltungen Kompetenzen genommen und diese bei der | |
Zentralregierung konzentriert werden.“ Die Planungskompetenz liege | |
prinzipiell bei den Gemeindeparlamenten. „Aber das bedeutet nicht, dass sie | |
keine Rechenschaftspflicht gegenüber anderen haben. Wer ist dafür | |
verantwortlich, die Entscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen? | |
Als vorangestelltes Organ ist das Ministerium dafür verantwortlich.“ | |
Bemerkenswert ist dabei, dass die existierende Gesetzeslage eine solche | |
Kontrolle der Gemeindeverwaltungen, wie sie Özhaseki nennt, bereits | |
vorsieht. Das heißt, es gibt eigentlich überhaupt keinen nachvollziehbarem | |
Grund für ein neues Gesetz. | |
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein | |
23 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5617307 | |
## AUTOREN | |
Altan Sancar | |
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