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# taz.de -- Serie: Was von 2019 bleibt: Kapitalismus ohne Demokratie
> Laut Ökonom Ümit Akçay ist die Krise in der Türkei noch nicht
> überstanden. taz.gazete hat mit ihm über Ursachen, vermeintliche
> Alternativen und das Jahr 2020 gesprochen.
Bild: März 2012: Ali Babacan (links) und Recep Tayyip Erdoğan (Mitte) stellen…
taz.gazete: 2019 wurde viel über die ökonomische Krise in der Türkei
berichtet. Beobachter gingen davon aus, dass diese die Regierung von
Erdoğan herausfordern würde. Lagen sie falsch?
Ümit Akçay: Die Krise setzt sich fort. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit
bei 14 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit hat schon die Marke von 25
Prozent überschritten. Damit die Zahl der Arbeitslosen nicht weiter steigt,
muss es im kommenden Jahr 2020 ein Wirtschaftswachstum von vier bis fünf
Prozent geben. Die optimistischsten Prognosen liegen aber bei drei Prozent.
Es ist schwer vorauszusehen, welche Folgen diese Entwicklungen haben
werden. Eine derart langfristige Arbeitslosigkeit ist neu in der AKP-Ära.
Die Regierung muss dieser Herausforderung irgendwie begegnen. Nur weil sie
sich bisher keinem Programm des Internationalen Währungsfonds untergeordnet
hat, konnte sie sozialstaatliche Programme fortsetzen und weiterhin
öffentliche Ausgaben tätigen – und so den Markt in Bewegung halten.
Nach der Krisenphase ist die türkische Wirtschaft in den vergangenen drei
Monaten wieder gewachsen. Die Lira konnte sich nach den Abwertungen
stabilisieren. Ist die Krise doch keine existenzielle gewesen, wie viele
behauptet haben?
Die Regierenden gehen davon aus, dass die Krise überstanden ist, weil die
Wirtschaft im letzten Quartal um 0,9 Prozent gewachsen ist. Aber das
Wachstumsmodell der Türkei ist abhängig von internationalen Kapitalflüssen.
Zuletzt hat sich der transatlantische Handel zwischen den USA und der EU
wieder intensiviert. Das hat sich positiv auf die Türkei ausgewirkt. Die
amerikanische Zentralbank Fed hat die Zinsen gesenkt, die Europäische
Zentralbank hat sich in den Negativzinsbereich begeben. So konnte Kapital
in die Länder der globalen Peripherie und Semiperipherie fließen. Wäre das
alles nicht passiert, dann hätte die Krise die türkische Wirtschaft viel
härter getroffen.
Um die gegenwärtige Wirtschaftspolitik der AKP zu beschreiben, verwenden
Sie die Bezeichnung “autoritäre Konsolidierung“. Was meinen Sie damit?
Falls die AKP diese Krise tatsächlich durchsteht, dann könnte sie ihr
ökonomisches Modell institutionalisieren. Denn Wirtschaftswachstum und
Demokratie bedingen einander nicht unmittelbar. Wenn internationale
Investoren das Funktionieren von Rechtsstaatlichkeit als Grundvoraussetzung
für Investitionen definieren würden, dann gäbe es global gesehen nur sehr
begrenzt Investitionen. Das ist aber nicht der Fall. Wir wissen, dass
Kapital in verschiedene Staaten dieser Welt mit sehr unterschiedlichen
politischen Systemen fließt. Und überall, wo es hinfließt kann das Kapital
Strategien entwickeln, die den jeweils spezifischen Bedingungen vor Ort
entsprechen.
Konkret heißt das, dass Kapitalismus auch ohne Rechtsstaat funktioniert?
Ja. Meistens ist es für das Kapital sogar günstiger, sich mit einer
einzigen autoritären Instanz zu arrangieren, statt mit einem ganzen
bürokratischen Komplex. Wenn es um die Rechte von Arbeitern und
Arbeiterinnen geht, profitiert es von den Repressionsmöglichkeiten eines
autoritären Regimes. Andererseits weiß ein autoritärer Führer auch, dass er
nur solange an der Macht bleiben kann, solange es wirtschaftliches Wachstum
gibt.
Und deshalb gibt es wirtschaftlich gesehen weiterhin ein starkes Band
zwischen Erdoğan und dem Westen?
Erdoğan versteht es sehr gut, die Flüchtlingskarte zu spielen. Er denkt, er
sei “too big to fail“. Ein Beispiel: Als es 2018 zum Zerwürfnis zwischen
den USA und der Türkei kam und der Konflikt zu einer Währungskrise
ausartete, kam ihm die deutsche Regierung zur Hilfe. Es wurde ein Treffen
von Ministern beider Länder organisiert. All das geschah zu einer Zeit, in
der die Menschenrechtslage in der Türkei und auch die Verhaftung des
Journalisten Deniz Yücel kontrovers diskutiert wurden. Deshalb ist es
überhaupt nicht überraschend, dass Volkswagen Investitionen in der Türkei
plant. Mercedes hat vergangenes Jahr in Russland investiert.
Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen der autoritären Umgestaltung der
Türkei und der ökonomischen Krise?
Unter Oppositionellen ist es weit verbreitet, die wirtschaftliche Krise auf
die autoritären Entwicklungen im Land zurückzuführen. Viele von ihnen haben
behauptet, dass mit dem neuen Präsidialsystem das Vertrauen der Märkte in
die türkische Wirtschaft schwinden würde. Oder dass mit der abnehmenden
Rechtsstaatlichkeit auch internationale Investitionen im Land abnehmen
würden. Aus dieser Perspektive gibt es keine Möglichkeit, die Krise zu
überwinden, solange Erdoğan an der Macht ist. Die Fakten aus der
Vergangenheit sprechen aber eine andere Sprache. Wenn wir das Jahr 2013,
als die Gezi-Proteste niedergeschlagen wurden, als Zeitpunkt der
autoritären Wende nehmen, sehen wir, dass die Investitionen von damals bis
ins Jahr 2018 nicht abgenommen haben. Das jährliche, internationale
Investitionsvolumen befindet sich weiterhin auf einem Niveau zwischen acht
und zehn Milliarden Dollar.
Dennoch: Wie wirkt sich die prekäre Wirtschaftslage auf die Zustimmung für
Erdoğan aus?
Für die AKP-Regierung war es wichtig, die lohnabhängige Bevölkerung und die
unteren Klassen in das Finanzsystem zu integrieren. Das hat neue
Möglichkeiten der privaten Verschuldung geschaffen und ärmste
Bevölkerungsteile haben Zugang zu Krediten erhalten. Heute nehmen selbst
Menschen Kredite auf, die weniger als den Mindestlohn verdienen. Zwei
Drittel der gesamten Privatschulden lasten auf den Schultern jener, die
weniger als 5.000 Lira, also weniger als 1.000 Euro im Monat verdienen. Bei
diesen Menschen herrscht eine Wahrnehmung von Wohlstand vor, obwohl sie arm
sind – weil sie schuldenbasiert konsumieren können, obwohl die Nettolöhne
eigentlich nicht steigen. Andererseits wissen sie sehr wohl, dass sie sich
verschulden. Das stärkt ihren Wunsch nach politischer Stabilität.
Warum ist diesen Menschen Stabilität wichtig?
Wenn die politische Stabilität fragil wird, dann steigen die Zinsen und die
individuelle ökonomische Situation der Menschen verschlechtert sich. Davor
haben die Menschen Angst. Diese Angst nutzt die AKP, um ihre Regierung zu
festigen. Es gibt dabei aber ein großes Risiko: Wenn sich das
Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr tatsächlich auf drei Prozent
beschränkt oder sogar noch geringer ausfällt, dann bekommen die Banken
große Probleme mit Kreditausfällen.
Ehemalige AKP-Politiker bemühen sich derzeit um konkurrierende
Parteiprojekte. Sie propagieren auch eine radikale Kehrtwende in der
Wirtschaftspolitik. Sind die Vorschläge des ehemaligen
AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan tatsächlich innovativ?
Nein. Babacan möchte zum Wirtschaftsprogramm der 2000er Jahre zurückkehren.
Das sieht unabhängige, wirtschaftspolitische Institutionen wie eine
unabhängige türkische Zentralbank vor, die die türkische Lira stärken soll.
Das Problem dabei ist nur, dass die gegenwärtige Krise das Resultat
ebenjenes Wirtschaftsprogramms ist. Als die türkische Lira gegenüber den
anderen Währungen an Wert gewann, wurde es hierzulande günstiger, Güter zu
importieren als sie selbst zu produzieren. Die nationale Industrie konnte
deshalb nicht mehr mit ausländischen Produzenten mithalten. Und wenn diese
Situation 15 Jahre anhält, dann verringert sich der Anteil der nationalen
Produktion am Bruttoinlandsprodukt. Eine gute Idee zur Krisenlösung ist das
nicht.
Haben die anderen Oppositionsparteien gute Ideen?
Die CHP hat kein alternatives Wirtschaftsprogramm. Sie verfolgt keine
grundlegende ökonomische Neuorientierung wie es etwa Jeremy Corbyn und
seine Labour-Partei vor den Parlamentswahlen in Großbritannien
vorgeschlagen haben. Die CHP gibt lediglich vor, dass sie das bestehende
Modell besser und kompetenter fortführen möchte. Das kompetente Verwalten
des bestehenden Modells löst aber nicht die Probleme der unteren Klassen.
Die HDP dagegen hat an Modellen gearbeitet, die auf der Idee von Autonomie
basieren. Unter der gegenwärtigen Repression hat sie aber keine Chance,
Ideen zu verwirklichen.
Aus dem Türkischen von Volkan Ağar
16 Dec 2019
## AUTOREN
Eren Paydaş
## TAGS
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Politik
Türkei
Opposition in der Türkei
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