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# taz.de -- Annabelle Hirsch Air de Paris: Die berühmten „anderen Zeiten“
In Frankreich bricht in diesen Tagen nicht nur ein neues Jahrzehnt an,
sondern vielleicht auch eine neue Zeit in Bezug auf die Begriffe der
Einwilligung und des Machtmissbrauchs, die für manche offenbar weiterhin
schwer zu greifen sind. Vor zwei Jahren hätte man wenig darauf gesetzt:
Damals, Sie erinnern sich, veröffentlichte eine Gruppe Frauen, darunter
Catherine Deneuve und Catherine Millet, in der Zeitung Le Monde eine
Petition, die forderte, man müsse mit dem amerikanischen MeToo-Puritanismus
brechen und den Männern das Recht zum Lästigsein lassen. Die Damen
fürchteten um die französische Kultur, hatten Angst, der Flirt, die
Freiheit, der ganze gute Sex, den man in Frankreich ja bekanntlich
permanent hat, würden unter der Last der Prüderie verloren gehen.
Es gab Reaktionen darauf, viele sogar, nur waren die meisten davon so
aufgebracht und wütend, dass das Ganze, à la francaise, in gegenseitigem
Anschreien verpuffte. Danach war es still. MeToo und Verpfeif-dein-Schwein
wurden begraben, Millet und Deneuve konnten aufatmen. Doch jetzt scheint
sich auf einmal doch noch etwas zu tun. Etwas bewegt sich, und ich meine
nicht die kreischenden Aktivistinnen, die gegen Polanskis letzten Film
protestierten. Ich meine zwei Frauen, die durch ihre Geschichte auf ein
Problem hingewiesen haben, das bisher auch im Kontext von MeToo kaum als
solches benannt wurde: die Pädophilie. Da war zuerst die Schauspielerin
Adèle Haennel, die Anfang November in einem Interview erzählte, wie der
Regisseur Christophe Ruggia sie als Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige
sexuell belästigt hatte; wie sie lange gar nicht sicher war, ob sie Opfer
oder doch vielleicht doch Mittäterin war; und warum sie erst jetzt, wo sie
berühmt und damit nicht mehr ignorierbar ist, zu sprechen wagt.
Und dann gibt es noch Vanessa Springora und ihr Buch „Le Consentement“,
„Die Einwilligung“. Die Autorin berichtet darin von ihrer Beziehung mit dem
in den 70er und 80er Jahren gefeierten Schriftsteller Gabriel Matzneff und
ihren Folgen, vor allem aber auch von der Blindheit, Feigheit – wie auch
immer man es nennen mag – des Pariser Kulturmilieus: Als Springora Matzneff
kennenlernt, ist sie 13, hat keinen Vater und fühlt sich, wie die meisten
Teenager, ungeliebt und hässlich. Dass dieser wichtige Mann, ein
Schriftsteller, sie begehrt, schmeichelt ihr natürlich. Beim ersten Sex mit
ihm ist sie vierzehn, der Autor zu dem Zeitpunkt mehr als dreimal so alt.
50. Diese Beziehung zu einem sehr jungen Mädchen ist nicht seine erste und
nicht seine letzte, sie ist kein Ausrutscher, kein „Liebe kennt kein
Alter“, sondern hat System.
Eine Pathologie, von der jeder weiß. Alle wissen, was er treibt und vor
allem mit wem er es treibt, weil seine Romane von nichts anderem handeln
und er in Interviews damit prahlt. Eines davon geht gerade als Video rum:
Bernard Pivot, bis vor Kurzem Vorsitzender des Prix Goncourt, fragt ihn,
warum er eigentlich nur auf junge Mädchen steht, woraufhin der Autor
selbstgefälliges Zeug plappert. Alle lachen, das war’s. Nur eine kanadische
Schriftstellerin sagt laut, was die anderen hoffentlich wenigstens leise
denken: nämlich, dass das, womit Matzneff da angibt, eine Straftat ist.
Eine, die Schäden hinterlässt. Und dass die „Einwilligung“ dieser jungen
Mädchen angesichts der Schieflage von Alter, Status, Erfahrung kaum als
solche gelten kann: „Alte Männer locken kleine Kinder mit Bonbons, Herr
Matzneff lockt sie mit seinem Ruf“, sagt sie und wird nach der Sendung als
„schlecht gefickt“ beschimpft.
Klar. Weil Intellektuelle wie Sartre, Simone de Beauvoir und Deleuze
damals, 1977, so Irrsinniges wie eine Petition zur Freilassung von
Pädophilen unterzeichnen. Weil man im Zuge von 68 meint, es sei „verboten
zu verbieten“ und offenbar vergessen hat, dass das Konzept der Freiheit das
der Verantwortung impliziert.
Manche, wenige zum Glück, berufen sich jetzt auf das berühmte „Das waren
eben andere Zeiten“. Aber am Ende wissen wahrscheinlich auch sie, dass das
Blödsinn ist. Dass „richtig“ und „falsch“ zu jeder Zeit recht klar
erkennbar ist, manche Zeiten es einem nur leichter machen, diese Erkenntnis
zu ignorieren. Unsere gehört hoffentlich nicht dazu. In diesem Sinne: Bonne
année und gute Zeit.
Annabelle Hirschist freie Journalistin und lebt in Paris
7 Jan 2020
## AUTOREN
Annabelle Hirsch
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