# taz.de -- berliner szenen: „Hallelujah“ mit etwas Zirkusglitter | |
Wie immer zwischen den Jahren treibt mich die Sehnsucht nach der Poesie | |
dann doch an den Anhalter Bahnhof, ins Tempodrom, denn den Zirkus, den | |
liebe ich sogar ohne Sägespänegeruch so sehr. | |
Wir haben uns irgendetwas Schönes angezogen und uns Glitzer in die | |
Gesichter gemalt. Wir immer zwischen den Jahren sitze ich oben auf dem | |
billigsten Plätzchen und freue mich dann doch ein bisschen und staune dann | |
doch sehr viel. Wie immer weine ich darüber, keine Artistin geworden zu | |
sein, so eine mit magerem Rücken und tiefsten Tiefenmuskeln überall, mit | |
federnden Schritten, und schwups springe ich auf die Schultern meiner | |
Nachbarin und katapultiere mich mit einem doppelten Salto in die Manege, wo | |
ich plötzlich nach oben fliege und dem Artisten auf dem Trapez Gesellschaft | |
leiste … so habe ich mir das schon als Kind ausgemalt, in der Achtzigern, | |
als der melancholische Clown Pic mit seinen Seifenblasen tanzte. Nur mit | |
den knappen Kostümchen und den Frauenrollen heute wäre ich nicht so | |
glücklich. Im Gegenteil. | |
Und diese unzirkussige Popmusik und das 5-Euro-Popcorn! Herrje. Am Ende | |
stelle ich mir dann doch wieder die Alte-Leute-Frage: Was ist nur aus | |
Roncalli geworden, oder bin ich es gar, die … | |
Die S-Bahn spuckt uns dann am Bahnhof Friedrichstraße aus, ein | |
Straßenmusiker singt gerade Leonard Cohens „Hallelujah“, und vor ihm, da | |
steht einer. In viel zu dünner Jacke, mit rotem Berggeistbart und Hut, Bier | |
in der Hand und Kippe in der anderen, die Augen zu, wankt er, nein, wiegt | |
er sich, tanzt lautlos im Stehen, ganz in sich versunken – da fällt ein | |
Stückchen von der glimmenden Asche seiner Zigarette herab, und während es | |
gen Gehweg schwebt und bevor es auf dem Boden verglühen wird, ist es so | |
orange leuchtend wie Zirkusglitter und so vergänglich und so wunderschön, | |
und wäre ich Bashō, würde ich ein Haiku drüber schreiben, aber so müssen | |
diese Zeilen herhalten. Geht doch. Kirsten Reinhardt | |
4 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Reinhardt | |
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