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# taz.de -- „Ich will nicht sterben“
> In der Türkei haben Männer im Jahr 2019 mindestens 318 Frauen getötet.
> Auf Twitter und auf der Straße kämpfen Frauen gegen die Männergewalt.
> Ihre Wut ist groß.
Bild: Bei der Frauendemo am 25. November in Istanbul ging die Polizei hart gege…
Von Beyza Kural
Auf der Fähre von Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls nach Beşiktaş
auf der europäischen Seite übt eine Gruppe Frauen Parolen und eine
Choreographie ein. „Das Patriarchat ist ein Richter, der uns von Anfang an
schuldig spricht … Eins, zwei, drei, vier … Schuld bist du, der
Vergewaltiger bist du.“
Die Frauen sind auf dem Weg zu einem Protest-Tanz des feministischen
Kollektivs Las Tesis, der sich von Chile aus in die ganze Welt verbreitet
hat. Sie haben es satt. 2019 ist die Gewalt der Männer in jeden Bereich
ihres Lebens eingedrungen. Männer haben in der Türkei in den vergangenen
elf Monaten nach offiziellen Angaben 318 Frauen umgebracht – fast jeden Tag
also tötet ein Mann seine Frau. Der Plattform „Wir werden die Frauenmorde
stoppen“ zufolge gab es 2019 430 Femizide.
Auch in diesem Jahr schwiegen die Stimmen nicht, die sagten: „Was suchte
sie zu dieser Zeit auf der Straße?“ Die Medien gaben den Frauen, die von
ihren Männern getötet wurden, die Schuld dafür. Männer, die ihre Frauen
umgebracht hatten, bekamen vor Gericht milde Haftstrafen wegen „guter
Führung“. Auch dieses Jahr haben Männer Frauen vergewaltigt, sie haben
Frauen auf der Straße, zu Hause, in der Schule und bei der Arbeit
belästigt.
## Mit erhobenem Haupt und entschlossenem Blick
Die Bilder der Frauendemos am 8. März und am 25. November in Istanbul
gingen um die Welt. Die Frauen trotzten der erheblichen Polizeigewalt und
ließen sich nicht von der Straße vertreiben. Vor einer Woche gingen
Polizisten hart gegen den Las Tesis-Protest in Kadıköy vor. Sechs Frauen
wurden an diesem Abend festgenommen. Auf Fotos sind sie in Handschellen zu
sehen, lachend, mit erhobenem Haupt, entschlossenem Blick.
„Dieses Lachen, diese Haltung zeigt, dass sie uns nicht einschüchtern
können“, sagt Ayşen Ece Kavas von der Plattform „Wir werden die Frauenmor…
stoppen“. Der Aktivistin zufolge schließen sich immer mehr dem Protest
gegen die systematische Gewalt gegen Frauen an. Kavas führt das auf die Wut
zurück, die die vielen Frauenmorde in der Gesellschaft erzeugen.
Am sichtbarsten wird diese Wut neben dem Protest auf der Straße in den
sozialen Medien. Die Frauen nutzen Twitter und Facebook, um Männer, die
sie bedroht oder belästigt haben, zu outen und um Aufmerksamkeit für
Anzeigen zu schaffen, die von der Justiz nicht verfolgt wurden. Die letzten
Worte von Emine Bulut, die im August vor den Augen ihres Kindes von ihrem
Mann getötet wurde, wurden zum Protestruf des Jahres: „Ich will nicht
sterben.“ Fast jeden Tag wird der Name einer Frau zum Hashtag.
Die Studentin Şule Çet ist eine der Frauen, für die auf Twitter unter einem
Hashtag Gerechtigkeit gefordert wird. Die 20-Jährige wurde am 29. Mai 2018
aus dem 20. Stock eines Hochhauses gestoßen, nachdem sie von zwei Männern
vergewaltigt worden war. Die Männer versuchten, ihren Tod als Suizid
darzustellen. Dass vor wenigen Wochen die Wahrheit ans Licht kam, lag auch
an Çets Freund*innen, die auf Twitter den Account „Gerechtigkeit für Şule
Çet“ erstellten. Dort veröffentlichten sie vom Autopsiebericht bis zu den
Zeugenaussagen alle Entwicklungen aus dem Prozess.
Vor Gericht gaben die Tatverdächtigen an, wegen des öffentlichen Drucks in
den sozialen Medien verhaftet worden zu sein. Aufgrund dieses Drucks wurden
die zwei Tatverdächtigen schließlich zu langen Haftstrafen verurteilt –
wenn auch mit Haftminderung wegen „guter Führung“.
Dass es so weit kommt, hätten sie anfangs nicht gedacht, sagen Şule Çets
Freund*innen, die anonym bleiben wollen. Es sei keine einfache Zeit
gewesen. Doch sie haben ihr Ziel erreicht. Heute ist Şule Çet ein Symbol
für alle getöteten Frauen. Und ihr Prozess wurde aufgrund der langen
Haftstrafen für die Täter zum Präzedenzfall. Fast jeden Tag bekommt der
Freundeskreis Nachrichten von Frauen, die Gewalt erlebt haben.
Die Administrator*innen des Accounts, der inzwischen 60.000 Follower*innen
hat, wollen nun auch den Stimmen dieser Frauen Gehör verschaffen. Neulich
habe sich eine Frau gemeldet, die von ihrem Freund vergewaltigt worden war.
Obwohl sie sich wiederholt bei den Behörden gemeldet habe, hätten sie
nichts unternommen. Erst als sie ihren Fall auf Şule Çets Account
veröffentlichen, melden sich die zuständigen Instanzen. „Wo waren sie bis
dahin?“, fragen Çets Freund*innen.
Auch die Frauenrechtlerin Ayşen Ece Kavas nimmt wahr, dass viele Menschen
die sozialen Medien für den besten Ort halten, um ihre Stimmen hörbar zu
machen. Die Menschen hätten ihr Vertrauen in Gerechtigkeit und die
Mainstream-Medien verloren, sagt sie.
## Am Abend gibt es einen weiteren Hashtag
Die Solidarität von der Straße bis zu den sozialen Medien gibt den Frauen
Kraft. Sie teilen ihre Geschichten und spüren, dass sie nicht allein sind.
Kavas hofft, dass 2020 das Jahr der Lösungen wird. Es sei unabdingbar, dass
geltende Gesetze und Konventionen umgesetzt werden. „Die Behörden müssen
die Gesetze anwenden“, sagt sie. „Wenn sie sich keinen Schritt nach vorne
bewegen, tun wir es.“ Im neuen Jahr müssen Frauen weiter kämpfen, um ihre
Rechte, die sie in der Vergangenheit errungen haben, zu schützen. Sowohl
das Gesetz Nr. 6284 zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen als auch die
Istanbul-Konvention standen dieses Jahr unter Beschuss, weil sie angeblich
der Familie schaden und gesellschaftlichen Werten widersprechen.
Diesen Monat veröffentlichte das Justizministerium ein Rundschreiben mit
dem Titel „Umsetzung des Gesetzes zum Schutz der Familie und zur Verhütung
von Gewalt gegen Frauen“. Das Rundschreiben ist letztlich ein Schritt, zu
dem das Ministerium durch die Kämpfe der Frauen gezwungen wurde. Zugleich
sieht die Anweisung vor, dass zukünftig während der Ermittlungen keine
Beweismittel in den sozialen Medien geteilt werden dürfen. Deshalb kämpfen
die Frauen weiter.
Als die Frauen auf dem Weg zum Las-Tesis-Protest in Beşiktaş die Fähre
verlassen, werden sie von Polizeiautos und Bereitschaftspolizisten
erwartet. Anders als eine Woche zuvor in Kadıköy schreiten die Polizisten
dieses Mal nicht ein. In Izmir hingegen werden nach einem Frauenprotest am
gleichen Tag Ermittlungen gegen teilnehmende Frauen eingeleitet. Am
gleichen Abend wird der Name einer weiteren Frau aus Izmir zum Hashtag. Ihr
Name ist Filiz Tekin.
Aus dem Türkischen von Elisabeth Kimmerle
28 Dec 2019
## AUTOREN
Beyza Kural
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