# taz.de -- Entlassungen nach dem Putschversuch: Keine Wiedergutmachung des Unr… | |
> Mihriban Yıldırım wurde nach dem Putschversuch suspendiert. Nun darf sie | |
> an die Uni zurückkehren – zu den Bedingungen der Regierung. | |
Bild: „Ich werde mir nicht nehmen lassen, was mir zusteht“, sagt Mihriban Y… | |
Das Leben von Mihriban Yıldırım aus Trabzon an der türkischen | |
Schwarzmeerküste hat sich in einer Septembernacht im Jahr 2016 mit der | |
Veröffentlichung einer Liste schlagartig geändert. Die 30-Jährige wurde von | |
ihrem Dienst als Assistenzärztin an der Karadeniz Teknik Üniversitesi | |
suspendiert. Gegen sie war ein Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in einer | |
terroristischen Vereinigung eingeleitet worden. Der angehenden Psychiaterin | |
wurde zur Last gelegt, die App Bylock auf ihrem Telefon installiert zu | |
haben. Der Messengerdienst wurde auch von Mitgliedern der Gülen-Bewegung | |
genutzt, die für den Putschversuch 2016 verantwortlich gemacht werden. | |
Das Gericht stellte fest, dass der Anschuldigung jede Grundlage fehlt. | |
Yıldırım wurde im Oktober 2017 freigesprochen. Doch der Freispruch | |
bedeutete nicht, dass sie auch ihre Arbeit wieder aufnehmen konnte. Darauf | |
musste sie noch zwei weitere Jahre warten. Damit wurde die Ungerechtigkeit, | |
die ihr widerfahren war, jedoch bei weitem nicht wiedergutgemacht. „Eines | |
Tages im November bekam ich einen Anruf vom Hochschulrat, in dem mir | |
mitgeteilt wurde, dass ich in den Dienst zurückkehren könnte. Ich dachte, | |
jetzt hätte ich endlich bekommen, was mir zusteht.“ Doch die Freude hielt | |
nicht lange an. | |
Auch wenn der Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch 2016 verhängt | |
wurde, im Juli 2018 nach zwei Jahren aufgehoben wurde, dauern die | |
Rechtsverletzungen an. In diesen zwei Jahren wurden insgesamt 134.144 | |
Personen von ihrem Dienst suspendiert, davon 6.081 Akademiker*innen. Viele | |
Verfahren, die in den vergangenen drei Jahren eröffnet wurden, sind zwar | |
inzwischen eingestellt, die Freigesprochenen konnten jedoch selten an ihre | |
Arbeitsplätze zurückkehren. Die Untersuchungskommission, die seit Mai 2017 | |
die Einsprüche gegen die Entlassungen überprüft, hat bis zum 25. Oktober | |
2019 92.000 von 126.200 Beschwerden bearbeitet. Sie gab 8.100 Anträgen | |
statt, 83.900 wurden abgelehnt. | |
Als Mihriban Yıldırım erfuhr, dass sie an die Universität zurückkehren | |
darf, war sie gerade nach Istanbul gezogen. Nach ihrer Suspendierung hatte | |
sie zwei Jahre lang als Frauenbeauftragte bei der Gewerkschaft der | |
Beschäftigten des Sozial- und Gesundheitswesens und für den Türkischen | |
Ärztebund in Trabzon gearbeitet. Doch in ihrem Beruf eine Arbeit zu finden, | |
war für sie schwierig, weil die Lokalzeitungen in Trabzon sie nach ihrer | |
Suspendierung zur Zielscheibe machten. Nach zwei Jahren zog Yıldırım nach | |
Istanbul, wo sie eine Stelle in einem Privatkrankenhaus fand. | |
## Jeder Provinz eine Universität | |
Nun konnte sie ihre alte Arbeit wieder aufnehmen, doch der Hochschulrat | |
stellte Bedingungen: Yıldırım durfte weder an ihre frühere Universität | |
zurückkehren noch an eine Universität in Istanbul, Ankara und Izmir, den | |
drei größten Metropolen des Lands. Die Hochschule musste zudem nach 2006 | |
gegründet worden sein. Yıldırım, die zuvor an einer renommierten | |
Universität ausgebildet wurde, befürchtet nun, dass ihre | |
Facharztweiterbildung darunter leiden wird. “Um Psychiaterin zu werden, | |
brauche ich noch drei weitere Jahre Fortbildung an einer Universität, die | |
dafür personell ausgestattet ist“, erklärt sie. „Jetzt kann es sein, dass | |
ich an einer ganz neuen Uni arbeiten muss.“ | |
Vor einer ähnlichen Entscheidung stehen viele Menschen, die von ihrem | |
Dienst suspendiert worden sind. Menschen, deren Unschuld die Gerichte | |
festgestellt haben, sollen nun ihren Wohnort wechseln, um wieder arbeiten | |
zu können. Es ist kein Zufall, dass diese Personen, die nun wieder in ihren | |
Dienst zurückkehren sollen, an die nach 2006 gegründeten Universitäten | |
außerhalb der drei Großstädte geschickt werden. Denn im Jahr 2006 begann | |
eine Zeitenwende in der Hochschulpolitik, die die AKP unter dem Motto | |
“Jeder Provinz eine Universität“ einleitete. Seitdem wurden 55 staatliche | |
Universitäten gegründet, die sich zum Großteil außerhalb der Großstädte | |
befinden. | |
Diese aus dem Boden gestampften Universitäten kämpfen schon eine Weile mit | |
Lehrkräftemangel. Teil der Personalpolitik der AKP war es, vakante Stellen | |
an den renommierten Universitäten mit Lehrbeauftragten der neu gegründeten | |
Universitäten zu besetzen. So wurden die per Dekret entlassenen | |
Akademiker*innen, die auf wissenschaftliche Unabhängigkeit und kritisches | |
Denken Wert gelegt hatten, durch AKP-nahe Dozent*innen ersetzt. Mit den | |
Notstandsdekreten wurden also nicht nur Menschen um ihr Recht gebracht, | |
sondern auch die Institutionen durch staatliche Hand umgekrempelt. | |
Mihriban Yıldırım wird wohl bald wieder umziehen müssen, wenn die | |
endgültige Entscheidung über ihre Versetzung getroffen wurde. Aufgrund der | |
Krise in der Türkei sei die Zukunft ungewiss, sagt sie. Yıldırım weiß | |
nicht, wohin sie versetzt wird. In manchen Fällen wurden die Geschassten an | |
ihren neuen Arbeitsplätzen gemobbt. Ob sie weiter als Assistenzärztin | |
arbeitet, wird sie erst entscheiden, wenn sie ihre neue Stelle antritt. | |
Sicher ist für sie nur eins: “Ich werde auch weiterhin im Gesundheitswesen | |
aktiv sein, in den Gewerkschaften und Berufskammern. Ich werde mir nicht | |
nehmen lassen, was mir zusteht.“ | |
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein | |
5 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Beyza Kural | |
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