# taz.de -- Die AWO zwischen Ideal und Realität | |
> Die Arbeiterwohlfahrt wird 100 Jahre alt. Sie will für Solidarität und | |
> Gerechtigkeit stehen, wird diesem Anspruch aber nicht immer gerecht. | |
> Frauen sind in der Führung unterrepräsentiert | |
Bild: Hier durften die Frauen natürlich ran: Kinderspielstube der AWO 1971 in … | |
Von Kirsten Achtelik | |
Zum Auftakt der Feier im gut gefüllten Berlin Congress Center am | |
Alexanderplatz spielte das Ensemble Olivinn „Brot und Rosen“, einen | |
Klassiker der internationalen Arbeiter*innenbewegung. In der ersten | |
Reihe saßen der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der | |
Arbeitsminister und SPD-Vizevorsitzende Hubertus Heil neben dem Regierenden | |
Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), und dem ehemaligen | |
Bundesvorsitzenden der SPD, Franz Müntefering. | |
## Erbe von Marie Juchacz | |
Die AWO entstand aus der sozialdemokratischen Arbeiter*innenselbsthilfe, | |
als Gegenmodell zu der damaligen christlich-karitativen Armenfürsorge. | |
Gegründet von der alleinerziehenden Sozialdemokratin Marie Juchacz – der | |
ersten Frau, die im deutschen Parlament eine Rede hielt –, fühlt sich der | |
Verband den Werten Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und | |
Gerechtigkeit weiterhin verbunden. Der Bundespräsident betonte in seiner | |
Festrede am Freitag, wie wichtig die Solidarität mit allen Menschen auch | |
heute wieder ist, der Arbeitsminister nannte die AWO in seinem Grußwort ein | |
„Bollwerk der Demokratie“. | |
Um die Umsetzung dieser Werte an veränderte, moderne Verhältnisse | |
anzupassen, beschloss die AWO am Samstag auf einer Sonderkonferenz ein | |
neues Grundsatzprogramm, das die bisherige Version von 1998 ablöst. Mit den | |
darin formulierten Selbstverpflichtungen sollen die Grundwerte stärker zum | |
Maßstab der nach außen gerichteten Arbeit, aber auch der eigenen | |
Organisation gemacht werden. Dass Ideal und Realität nicht immer | |
zusammenpassen, wissen auch die Verantwortlichen. | |
Bereits Anfang des vergangenen Jahres hatte die AWO ihren ersten | |
Gleichstellungsbericht veröffentlicht. Darin zeigte sich, dass zwar sehr | |
viele Frauen an der Basis aktiv sind, es aber in den Führungspositionen | |
sehr viel männlicher wird. | |
Auch auf der Jubiläumsfeier betreten Frauen nur als Künstlerinnen die Bühne | |
und um die Wassergläser der Redner zu wechseln. Wenn | |
Geschlechtergerechtigkeit von der AWO als „eine Frage des verbandlichen | |
Überlebens“ begriffen wird, wie der Titel des Gleichstellungsberichtes | |
nahelegt, dann hat der Verband noch einiges zu tun. | |
Die Satzungsänderung schreibt ab der nächsten Wahlperiode eine Doppelspitze | |
vor, die mit „zwei Vorsitzenden unterschiedlichen Geschlechts“ besetzt | |
werden muss. Menschen jenseits der binären Geschlechterzuschreibung kommen | |
allerdings auch in dem Gleichstellungsbericht lediglich im Ausblick vor. | |
Die Inklusion von Menschen mit Behinderung soll im Jahr 10 nach der | |
deutschen Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention stärker | |
handlungsanleitend für die AWO werden. Wie viele Menschen mit Behinderung | |
sind bei der AWO beschäftigt? Hierzu hatte der Vorstandsvorsitzende | |
Wolfgang Stadler im Gespräch mit der taz kurz vor dem Fest keine Zahlen zur | |
Hand. Er war sich jedoch sicher, dass da „noch Luft nach oben“ ist. | |
Die AWO betreibt auch Werkstätten für Menschen mit Behinderung. An diesen | |
Einrichtungen übt die Behindertenbewegung viel Kritik, da Sondersysteme die | |
gesellschaftliche Exklusion von Menschen mit Behinderung fördern, statt sie | |
abzubauen. | |
Der Vorstandvorsitzende gab zu bedenken, dass die AWO in diesem Bereich | |
kein großer Anbieter sei, nichtsdestotrotz diskutiere man kritisch darüber, | |
welche Zukunft die Werkstätten haben könnten. Dabei müsse allerdings auch | |
gefragt werden, wie der „normale Arbeitsmarkt“ aussehe, und es müssten die | |
Möglichkeiten für Menschen verbessert werden, die nicht fit und | |
leistungsfähig sind. | |
In Zeiten des Fachkräftemangels hoffte Stadler hier auf eine Öffnung. Für | |
die Werkstätten der AWO konnte er sich vorstellen, die Arbeit einiger der | |
dort beschäftigten Menschen mit Behinderung aufzuwerten, indem ihr Status | |
und ihre Bezahlung dem von Angestellten angepasst würden. Das wäre eine | |
erhebliche Gehaltsaufstockung: Werkstattbeschäftigte verdienen nur etwa 180 | |
Euro im Monat. | |
Der Skandal um die AWO-Kreisverbände Frankfurt am Main und Wiesbaden zieht | |
beinah täglich weitere Kreise. Zu hohe Gehälter, zu große Autos – drei | |
Geschäftsführer der AWO sind bereits zurückgetreten, die Frankfurter | |
Jubiläumsfeier wurde abgesagt. | |
## Luxus für Geschäftsführer | |
Der Bundesverband hat die Weiterleitung von öffentlichen Zuwendungsmitteln | |
an die Kreisverbände zunächst eingestellt, bis das Prüfungsverfahren | |
abgeschlossen ist. | |
Der Vorstandsvorsitzende zeigte sich im Gespräch schockiert darüber, dass | |
die Aufsichtsorgane hier offensichtlich versagt hätten. Erst 2017 seien mit | |
einem Governance-Kodex Transparenz und Kontrolle verbessert sowie die Höhe | |
der Vergütungen geklärt worden. Es müsse klar sein, dass man bei der AWO | |
nicht so viel verdiene wie in der freien Wirtschaft, betonte Stadler. Eine | |
solche Vetternwirtschaft sei „nicht die AWO“ und besonders betrüblich, weil | |
sie die gute Arbeit der Mitarbeiter*innen und Freiwilligen verdecke. | |
Als der Präsidiumsvorsitzende Wilhelm Schmidt in seiner Begrüßungsrede | |
sagte, dass Leute, die gegen die Werte der AWO verstießen, in ihren Reihen | |
nichts zu suchen hätten, erntete er lang anhaltenden Applaus. | |
16 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Achtelik | |
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