# taz.de -- „Weil es an der Zeit ist“ | |
> Betye Saar arbeitet seit den 60er Jahren als Assemblage-Künstlerin. Ihre | |
> Werke inspirierten die Bürgerrechts- und die Frauenbewegung in den USA. | |
> 2020 wird die 93-Jährige mit dem Wolfgang-Hahn Preis geehrt | |
Bild: Vergessene oder als Abfall deklarierte Objekte sind Markenzeichen von Bet… | |
Von Hanno Hauenstein | |
In den USA, der Heimat der 1926 geborenen Assemblage-Künstlerin Betye Saar, | |
hat Mystik derzeit Konjunktur. Knapp 2,2 Milliarden Dollar geben | |
US-Amerikaner einer Studie des Marktforschungsunternehmens IBISWorld | |
zufolge jährlich für sogenannte mystische Dienste aus. Der Einfluss von | |
populärer Mystik und Okkultismus auf Saars Kunst ist unübersehbar. Ihre | |
Werke reagieren auf ein Klima der Unsicherheit, aus dem sich auch die neue | |
Affinität zur Mystik speist. Das allein aber kann das derzeit neu erstarkte | |
Interesse an ihrer Kunst nicht erklären. | |
Bereits seit über einem halben Jahrhundert ist Saar, die Design studierte | |
und lange als Druckgrafikerin arbeitete, als Assemblage-Künstlerin aktiv. | |
Sie bereicherte das Medium um eine schillernde Bandbreite an Inhalten, die | |
Astrologie, Handlesekunst und Tarot genauso einbezieht wie ihre persönliche | |
Familiengeschichte, politischen Aktivismus und ihre Erfahrungen mit | |
Rassismus in den USA. Das spektakulär renovierte MoMA New York eröffnete | |
vor wenigen Wochen neu, unter anderem mit einer Einzelausstellung zu Saars | |
Werk. Der Titel der Ausstellung geht auf eine ihrer Arbeiten zurück: „The | |
Legends of Black Girl’s Window“. | |
Kurz nach Eröffnung wurde Ende Oktober bekannt, dass der | |
Wolfgang-Hahn-Preis im kommenden Jahr an Saar verliehen wird. Sie reiht | |
sich damit ein in eine Riege namhafter Künstlerinnen wie Pippilotti Rist | |
und Isa Genzken. Saar aber ist die bislang älteste Preisträgerin, die von | |
der Gesellschaft für Moderne Kunst am Kölner Museum Ludwig ausgezeichnet | |
wird. Der mit 100.000 Euro dotierte Preis ist mit einem Ankauf für die | |
Sammlung und einer Ausstellung verbunden. Bei dem Werk, sagte der | |
Museumsdirektor Yilmaz Dziewior dem Kölner Stadt-Anzeiger, handle es sich | |
um eine Collage aus den frühen 70er Jahren. | |
Die Auszeichnung stellt in mehrfacher Hinsicht eine Bereicherung dar: Sie | |
ehrt eine Künstlerin, die trotz ihrer Beharrlichkeit im Kunstbetrieb in | |
Deutschland und Europa noch weitgehend unbekannt ist; und sie erweitert den | |
weitgehend männlich-eurozentrischen Kanon der Assemblage – die in der Regel | |
mit Namen wie Robert Rauschenberg, Joseph Cornell oder Man Ray verbunden | |
wird – um eine Vertreterin, deren Werke Ausdruck der afroamerikanischen | |
Erfahrung in den USA sind sowie ihres scharfkantig feministischen Denkens. | |
Das Aufspüren, Integrieren und Neuaufwerten alltäglicher, vergessener oder | |
als Abfall deklarierter Objekte in ihre Kunst ist ein Markenzeichen ihrer | |
Assemblagen. Bemalte Thunfischdosen, skulpturierte Küchenwaagen, entkernte | |
Metronome und alte Postkarten sind nur einige Beispiele der diversen | |
Fundstücke, die sich in ihren Werken wiederfinden. Manche dieser | |
Rohmaterialien stammen von Flohmärkten oder aus Antiquitätenläden und | |
Mülleimern in ihrer Heimat Kalifornien, andere aus Ländern, die sie im | |
Laufe ihres Lebens bereiste: Brasilien, Haiti, Marokko oder Senegal. | |
Laut Angela Davis, Black-Panther-Aktivistin und Symbolfigur der | |
Bürgerrechtsbewegung in den USA, war es eine dreidimensionale | |
Assemblage-Arbeit von Saar, die in den 70er Jahren die schwarze | |
Frauenbewegung auslöste: „The Liberation of Aunt Jemima“. Das Werk, Saars | |
signature piece, entfremdet eine rassistische Karikatur, die schwarze | |
Plantagenmagd Jemima – in den USA einst Markenlogo einer | |
Pfannkuchenmischung. Im Original hielt die Figur Bleistift und Notizblock | |
in den Händen. In Saars Arbeit wurde sie zur selbstermächtigten Kämpferin | |
modelliert, mit Handgranate und Gewehr. Das charakteristische Lächeln der | |
Figur erhält so eine völlig neue Bedeutung. | |
Das Herzstück der MoMA-Ausstellung ist „Black Girl’s Window“, eine Arbeit | |
aus dem Jahr 1969. Das Werk, ein pastellfarben bemaltes Holzfenster, bildet | |
den sprichwörtlichen Rahmen für Saars Philosophie: „Fenster sind eine Art, | |
nach draußen zu blicken“, sagt sie in einer älteren Tonaufnahme, „oder na… | |
innen. Sie sind Symbole des Übergangs.“ Die obere Hälfte der Fenstertafeln | |
bildet ein kinderbuchartiger Nachthimmel. Darunter sind eine phrenologische | |
Zeichnung, tanzende Gestalten und ein Skelett zu sehen. Außerdem ein Löwe | |
(Saars Sternzeichen) und die Daguerreotypie einer Unbekannten, die ihre | |
vergessenen Vorfahren symbolisiert. „Ich wurde Kreolin, Mulattin, Mischvolk | |
und Farbige genannt“, sagt Saar, „aber ich trete aus diesen Schatten | |
heraus, versklavt durch die one-drop rule, doch befreit durch die | |
Gewissheit, dass alles Blut rot ist.“ In der unteren Hälfte ist eine | |
Silhouette erkennbar, deren Handverzierungen die Himmelssymboliken | |
spiegeln. Es liegt nicht ganz fern, darin eine schwarze Version des | |
Klee’schen „Angelus Novus“ zu erkennen: dem Fensterinneren zugewandt, nach | |
außen fliehend, lässt diese Figur die Zeitebenen ineinanderfließen und | |
beschwört das Erbe der Vorfahren. | |
Saars private Mythologie und ihr politischer Aktivismus verlieren bis heute | |
kaum an Faszination. Was erklärt ihren späten Durchbruch? Die Tatsache, | |
dass sie als schwarze Frau schlicht für die längste Zeit ihres Schaffens | |
übersehen wurde? In einem Interview mit dem US-Journalisten Holland Cotter | |
beantwortete Saar die Frage einfach: „Weil es an der Zeit ist!“ | |
30 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Hanno Hauenstein | |
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